Mitten im Höllenfeuer
Die aktuelle Flüchtlingsdebatte hat uns vor Augen geführt, welch unglaubliche Dimensionen das Phänomen Flucht weltweit erreicht hat: Knapp sechzig Millionen Menschen haben ihre Heimat verlassen und sind unterwegs, um irgendwo ein besseres Leben zu finden (laut Bericht des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR für 2014). Im Einzugsbereich Europas ist Syrien das Exodusland Nr. 1 und Deutschland das begehrteste Ziel. In Amerika fliehen die meisten Menschen aus Kolumbien, Ecuador und den mittelamerikanischen Staaten Nicaragua, El Salvador, Honduras, Guatemala in Richtung Norden, um sich in die USA durchzuschlagen. Wer auf den Landweg angewiesen ist – Zehntausende jedes Jahr, seit 2014 vermehrt Minderjährige ohne Begleitung –, ist Wochen und Monate unterwegs, zu Fuß, in Bussen oder auf dem Dach von Güterzügen. Der Spielfilm »Sin Nombre – Zug der Hoffnung« (2009) zeigt, wie es auf dieser Reise zugeht. Tag und Nacht muss jeder Passagier mit Raub, Entführung, Vergewaltigung und Mord rechnen, denn Schlepperbanden, lokale Gangstergruppen und das organisierte Verbrechen bedienen sich nach Belieben bei den Durchziehenden. Der schwierigste Streckenabschnitt ist die Durchquerung Mexikos. Hier wartet oft nichts weniger als die Hölle.
Der mexikanische Autor Antonio Ortuño, Jahrgang 1976, erzählt in seinem vierten Roman »La Fila India« (2013, übersetzt von Nora Haller) in beispielloser Schonungslosigkeit und Brutalität von dieser Thematik, und die deutsche Ausgabe verkündet schon auf dem Titel, dass die Fiktion den Leser mit grausamsten Realitäten konfrontieren wird: »Die Verbrannten«. Leider ist es aber nicht nur das unfasslich bittere Schicksal der Migranten, das den Leser tieftraurig stimmt. Schier zur Verzweiflung könnte einen der Zustand des mexikanischen Staatswesens treiben, wie es hier geschildert wird.
Ein Güterzug mit vergitterten Waggons voller Illegaler – Frauen, Männer und Kinder – rumpelt durch das südliche Mexiko nordwärts. Polizei und Bandenmitglieder eskortieren ihn. Wer den Schleppern nicht genug bezahlt hat, muss mit einem Platz auf dem lebensgefährlich schwankenden Dach vorlieb nehmen oder sich an den Seitengestängen festklammern. Stopps, um den Menschen die Verrichtung ihrer Notdurft zu erlauben, sind nicht vorgesehen. Allenfalls wird angehalten, wenn das Aufsichtspersonal die Lust überkommt, ein paar Frauen oder Mädchen zu vergewaltigen. Als die Bewacher bei einer solchen Gelegenheit dummerweise vergessen, die Türen wieder zu verriegeln, gelingt einer Gruppe von einem halben Hundert die Flucht. Erschöpft und dehydriert erreichen sie gemeinsam die kleine Stadt Santa Rita.
Dort informiert man die Migrationsbehörde und kaserniert die Flüchtlinge dann vorläufig in einem Auffanglager, bis der Dienststellenleiter seine Entscheidung, was aus ihnen werden soll, gefällt hat. Er braucht sich die Mühe aber gar nicht mehr zu machen, denn während die Lagerangestellten eine rauschende Party mit Tanz, Tequila und Tombola zelebrieren, wird die fest verrammelte Unterkunft samt den darin schlafenden Migranten abgefackelt.
Vierzig Tote und ein Dutzend Verletzte kann man schlecht unter den Tisch kehren. Das entsetzliche Verbrechen muss von offizieller Seite aufgeklärt werden. Das Nationalkommitee für Migration (NkM) veröffentlicht eine Pressemitteilung. Es sei eine »andauernde Pflicht, die Menschenrechte eines jeden Menschen zu schützen, insbesondere die der Familien, die mexikanischen Boden durchqueren«. Man werde alles tun, sich »gleichermaßen mit den Bedürfnissen der Überlebenden wie denen der Angehörigen zu befassen«. Sämtliche Kosten für Anreise, Krankenhaus, spätere Therapie und Beerdigung würden gemäß eines gerade in Kraft getretenen Förderprogramms übernommen. Man spricht sein Bedauern aus.
Im Auftrag der Regierung reist eine Angestellte des NkM aus der Hauptstadt Mexiko City an. Irma, die sich selbst »La Negra« nennt, hat ein Soziologiestudium abgeschlossen und ist alleinerziehende Mutter. Mit ihrem Töchterchen bezieht sie einen weißen Bungalow in einer Wohnanlage. Während das Mädchen die nahegelegene Schule besucht, leistet die Mutter vom Morgen bis in die Nachmittagsstunden Büroarbeit (»ich hierarchisierte den Tod«) und bemüht sich, etwas über die Hintergründe des Anschlags zu erfahren.
Doch wohin sie sich auch wendet, stößt sie nur auf Ablehnung. Polizei und Lagerangestellte sind keine Hilfe, wissen angeblich nichts zu sagen. Den Überlebenden nahezukommen gelingt ihr ebenso wenig; die übergroße Angst vor den Schleppern, den Behörden, der Polizei, dem Zurückgeschicktwerden lässt die Menschen verstummen. Nur die Verhöre, die sie mit der jungen Yein führt, lassen Irma hoffen, eine kleine Öffnung in die Mauer des Schweigens zu brechen, der sie sich konfrontiert sieht. Die Zwanzigjährige hat schon während der langen Reise Unvorstellbares durchlebt, ehe sie in Santa Rita knapp dem Feuertod entrinnen konnte. Sie weiß Genaueres über Täter und Hergänge, als sie La Negra zu verraten wagt.
Die Ursachen für die Atmosphäre der Angst, die Irmas Ermittlungen ins Nichts laufen lässt, sind durch die Berichterstattung in den Medien auch bei uns hinlänglich bekannt. Seit Jahrzehnten sind Verbrechen und Behörden in Mexiko eine unselige Allianz eingegangen. Mächtige Drogenkartelle und kriminelle Organisationen können tun und lassen, was sie wollen: Drogen, Waffen, Menschen schmuggeln, Mädchen entführen und zur Prostitution zwingen, einander bekriegen, ihren Willen mit nackter Gewalt durchsetzen, die Zivilbevölkerung drangsalieren. Weil Polizei und Justiz durch Gefälligkeiten verpflichtet wurden oder gar direkt an Gewinn und Einfluss beteiligt sind, werden Verbrechen nicht aufgeklärt, Täter nicht verfolgt. Die Korruption reicht bis in die höchsten Ämter des Landes.
Welche Rolle mag in diesem System wohl der Durchschnittsbürger spielen? Vielleicht ist Irmas Ex-Mann, ein Lehrer, kein Einzelfall. Er mischt nicht selbst mit, ist auch nicht korrupt, aber opportunistisch. Er ist durch und durch vergiftet von Frust und ohnmächtigem Hass auf die Verhältnisse an seiner Schule, auf die Unabhängigkeit, mit der seine Frau handelt, auf die verdorbene mexikanische Gesellschaft, auf die Illegalen, die das Unheil nur vergrößern, und auf sich selbst. Dabei trägt er durchaus seinen kleinen Teil zum Erhalt des großen Gebäudes bei: Indem er eine illegal Eingereiste für alle niederen Dienste in seiner Wohnung hält, profitiert auch der Kleinbürger von der allgemeinen Gesetzlosigkeit und stützt sie damit. Seine sarkastischen Tiraden gegen alles und jeden – Bruchstücke von Lehrerzimmergesprächen – ergänzen, kursiv abgesetzt, immer wieder den Handlungsgang.
Unter diesen fatalen Umständen sind Irmas Anstrengungen, Licht ins Dunkel von Santa Rita zu bringen, von Anbeginn zum Scheitern verurteilt, im Grunde unerwünscht. Was den Fremden zustößt, wie sie leiden, das schert niemanden. Vielmehr will man möglichst schnell zur Normalität zurückkehren. Doch weitere, noch viel größere Verbrechen, wie ein Massaker an mehreren Hundert Zentralamerikanern nahe der Hauptstadt, zieht die öffentliche Aufmerksamkeit von Santa Rita ab. Das NkM beschwichtigt mit immer neuen Verlautbarungen, deren Formeln der Anteilnahme und großspurige Ankündigungen nichts als hohle Textbaustein-Phrasen sind, ein geradezu zynischer Umgang des Staates mit seinem Volk.
Irma aber lässt sich nicht beirren. Trotz offener Widerstände und wachsender Gefahren setzt sie sich mutig ein, um die verbliebenen Flüchtlinge zu schützen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Die wollen sich das nicht bieten lassen, und so geht das Morden weiter, bis Irma und ihre Tochter an der Reihe sind.
Bitterer Sarkasmus, dazu ein ungewöhnlicher, fesselnder Sprachstil, eine lebhafte Struktur und die Vielfalt der Stimmen zeichnen Antonio Ortuños Krimi aus. Was er seinem Leser an drastischen Schilderungen zumutet, wird nicht jeder verkraften. Solche kompromisslose Darstellungen von Missbrauch, Ausbeutung, Demütigung, Vergewaltigung, Verstümmelung, Tötung wie in diesem Buch hat man selten gelesen.
Und doch überzeichnet Ortuño die Wirklichkeit seines Heimatlandes keineswegs. Die Realität holte die Fiktion ein, als am 26. September 2013 in Iguala, Bundesstaat Guerrero, 43 indigene Studenten verschwanden und später einige ihrer teilweise verbrannten Körper in einem Massengrab ganz in der Nähe gefunden wurden. Wenn es eine Hölle auf Erden gibt, dann liegt sie vielleicht in Mexiko.