Rezension zu »Die Verbrannten« von Antonio Ortuño

Die Verbrannten

von


Kriminalroman · Kunstmann · · Gebunden · 208 S. · ISBN 9783956140556
Sprache: de · Herkunft: mx

Klicken Sie auf die folgenden Links, um sich bei Amazon über die Produkte zu informieren. Erst wenn Sie dort etwas kaufen, erhalte ich – ohne Mehrkosten für Sie! – eine kleine Provision. Danke für Ihre Unterstützung! Mehr dazu hier.
Bei Amazon kaufen

Mitten im Höllenfeuer

Rezension vom 19.11.2015 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Die aktuelle Flüchtlings­debatte hat uns vor Au­gen ge­führt, welch un­glaubliche Di­mensionen das Phäno­men Flucht weltweit er­reicht hat: Knapp sech­zig Millionen Men­schen haben ihre Heimat ver­las­sen und sind unter­wegs, um ir­gendwo ein besseres Le­ben zu fin­den (laut Be­richt des UN-Flücht­lings­hilfswerks UNHCR für 2014). Im Ein­zugsbe­reich Eu­ro­pas ist Syrien das Exodus­land Nr. 1 und Deutschland das be­gehr­teste Ziel. In Amerika flie­hen die meis­ten Men­schen aus Kolumbien, Ecuador und den mittel­amerika­ni­schen Staa­ten Nicara­gua, El Sal­vador, Hon­duras, Guate­mala in Rich­tung Norden, um sich in die USA durchzu­schlagen. Wer auf den Landweg an­ge­wiesen ist – Zehntau­sende jedes Jahr, seit 2014 ver­mehrt Min­derjährige ohne Be­gleitung –, ist Wochen und Monate un­terwegs, zu Fuß, in Bussen oder auf dem Dach von Güterzügen. Der Spiel­film »Sin Nombre – Zug der Hoff­nung« (2009) zeigt, wie es auf dieser Reise zu­geht. Tag und Nacht muss jeder Passagier mit Raub, Ent­führung, Verge­walti­gung und Mord rech­nen, denn Schlepper­banden, lo­kale Gangster­grup­pen und das or­gani­sierte Ver­brechen be­die­nen sich nach Belie­ben bei den Durchzie­henden. Der schwierigste Strecken­ab­schnitt ist die Durchque­rung Mexi­kos. Hier wartet oft nichts weni­ger als die Hölle.

Der mexika­ni­sche Autor Antonio Or­tuño, Jahr­gang 1976, erzählt in seinem vier­ten Roman »La Fila India« Antonio Ortuño: »La Fila India« bei Amazon (2013, über­setzt von Nora Hal­ler) in beispiel­lo­ser Scho­nungslosig­keit und Brutalität von die­ser The­matik, und die deut­sche Aus­gabe verkün­det schon auf dem Titel, dass die Fik­tion den Le­ser mit grau­sam­sten Realitäten konfrontie­ren wird: »Die Ver­brannten«. Lei­der ist es aber nicht nur das un­fasslich bit­tere Schick­sal der Mi­granten, das den Leser tief­traurig stimmt. Schier zur Ver­zweif­lung könnte einen der Zustand des me­xika­ni­schen Staatswesens treiben, wie es hier ge­schildert wird.

Ein Güterzug mit vergit­terten Wag­gons voller Illegaler – Frauen, Männer und Kinder – rumpelt durch das südliche Me­xiko nord­wärts. Poli­zei und Ban­denmit­glieder es­kortie­ren ihn. Wer den Schleppern nicht ge­nug bezahlt hat, muss mit einem Platz auf dem le­bensge­fährlich schwan­ken­den Dach vorlieb neh­men oder sich an den Seitenge­stängen fest­klammern. Stopps, um den Men­schen die Verrichtung ihrer Not­durft zu er­lauben, sind nicht vorge­se­hen. Allen­falls wird angehalten, wenn das Auf­sichts­personal die Lust über­kommt, ein paar Frauen oder Mäd­chen zu ver­gewaltigen. Als die Be­wa­cher bei einer solchen Gele­genheit dum­mer­weise ver­gessen, die Türen wieder zu verrie­geln, ge­lingt einer Gruppe von einem halben Hun­dert die Flucht. Er­schöpft und de­hydriert errei­chen sie gemein­sam die kleine Stadt Santa Rita.

Dort infor­miert man die Migra­ti­onsbehörde und kaser­niert die Flüchtlinge dann vorläu­fig in einem Auf­fangla­ger, bis der Dienststel­lenleiter seine Ent­scheidung, was aus ihnen werden soll, ge­fällt hat. Er braucht sich die Mühe aber gar nicht mehr zu machen, denn wäh­rend die La­gerangestellten eine rau­schende Party mit Tanz, Te­quila und Tombola ze­lebrieren, wird die fest verram­melte Unterkunft samt den darin schla­fenden Mi­granten ab­ge­fackelt.

Vierzig Tote und ein Dut­zend Ver­letzte kann man schlecht unter den Tisch keh­ren. Das ent­setzliche Ver­brechen muss von of­fizieller Seite aufgeklärt werden. Das National­kom­mitee für Mi­gration (NkM) ver­öffentlicht eine Presse­mit­teilung. Es sei eine »andauernde Pflicht, die Menschen­rechte eines jeden Men­schen zu schützen, insbe­sondere die der Fa­milien, die mexikani­schen Boden durch­que­ren«. Man werde alles tun, sich »gleicher­maßen mit den Bedürf­nissen der Überleben­den wie denen der An­ge­höri­gen zu be­fassen«. Sämtliche Kos­ten für Anreise, Krankenhaus, spätere Therapie und Beerdigung würden ge­mäß eines gerade in Kraft getre­tenen För­derpro­gramms über­nom­men. Man spricht sein Be­dauern aus.

Im Auftrag der Regie­rung reist eine Ange­stellte des NkM aus der Hauptstadt Me­xiko City an. Irma, die sich selbst »La Ne­gra« nennt, hat ein Soziologie­studium ab­ge­schlossen und ist allein­erzie­hende Mut­ter. Mit ihrem Töch­ter­chen be­zieht sie ei­nen weißen Bungalow in einer Wohn­an­lage. Wäh­rend das Mädchen die nahegele­gene Schule besucht, leis­tet die Mut­ter vom Morgen bis in die Nach­mittagsstunden Büroar­beit (»ich hierarchi­sierte den Tod«) und bemüht sich, etwas über die Hinter­gründe des Anschlags zu erfahren.

Doch wohin sie sich auch wen­det, stößt sie nur auf Ablehnung. Polizei und Lager­ange­stellte sind keine Hilfe, wissen an­geblich nichts zu sa­gen. Den Überleben­den nahezu­kommen ge­lingt ihr ebenso wenig; die über­große Angst vor den Schlep­pern, den Behörden, der Polizei, dem Zurück­ge­schicktwerden lässt die Men­schen verstum­men. Nur die Ver­höre, die sie mit der jun­gen Yein führt, las­sen Irma hoffen, eine kleine Öff­nung in die Mauer des Schwei­gens zu bre­chen, der sie sich kon­frontiert sieht. Die Zwan­zigjäh­rige hat schon wäh­rend der lan­gen Reise Unvorstell­bares durch­lebt, ehe sie in Santa Rita knapp dem Feuer­tod ent­rin­nen konnte. Sie weiß Ge­naueres über Täter und Hergänge, als sie La Negra zu verraten wagt.

Die Ursa­chen für die Atmo­sphäre der Angst, die Irmas Ermittlungen ins Nichts laufen lässt, sind durch die Bericht­er­stattung in den Medien auch bei uns hinlänglich bekannt. Seit Jahrzehnten sind Verbre­chen und Behörden in Mexiko eine un­selige Allianz ein­gegangen. Mächtige Dro­genkar­telle und kriminelle Orga­ni­satio­nen kön­nen tun und las­sen, was sie wollen: Dro­gen, Waffen, Men­schen schmug­geln, Mädchen entfüh­ren und zur Pro­stitution zwingen, einan­der be­kriegen, ihren Willen mit nackter Gewalt durch­setzen, die Zivilbe­völke­rung drangsalie­ren. Weil Polizei und Justiz durch Gefällig­keiten ver­pflichtet wurden oder gar direkt an Ge­winn und Ein­fluss be­teiligt sind, werden Ver­brechen nicht aufgeklärt, Täter nicht ver­folgt. Die Kor­ruption reicht bis in die höchs­ten Ämter des Landes.

Welche Rolle mag in diesem Sys­tem wohl der Durch­schnitts­bürger spie­len? Viel­leicht ist Irmas Ex-Mann, ein Lehrer, kein Einzel­fall. Er mischt nicht selbst mit, ist auch nicht kor­rupt, aber op­portunis­tisch. Er ist durch und durch ver­giftet von Frust und ohnmächti­gem Hass auf die Verhält­nisse an sei­ner Schule, auf die Un­ab­hängigkeit, mit der seine Frau handelt, auf die ver­dorbene me­xikanische Ge­sellschaft, auf die Ille­ga­len, die das Unheil nur vergrö­ßern, und auf sich selbst. Dabei trägt er durchaus seinen klei­nen Teil zum Erhalt des gro­ßen Ge­bäudes bei: Indem er eine illegal Ein­gereiste für alle nie­deren Diens­te in seiner Woh­nung hält, profi­tiert auch der Kleinbürger von der all­gemeinen Gesetzlo­sigkeit und stützt sie damit. Seine sarkastischen Ti­raden ge­gen alles und jeden – Bruchstücke von Lehrer­zimmer­gesprächen – er­gänzen, kur­siv abge­setzt, immer wieder den Handlungs­gang.

Unter diesen fa­talen Um­ständen sind Irmas An­strengungen, Licht ins Dunkel von Santa Rita zu bringen, von Anbeginn zum Schei­tern ver­ur­teilt, im Grunde uner­wünscht. Was den Fremden zu­stößt, wie sie leiden, das schert nie­man­den. Vielmehr will man mög­lichst schnell zur Normalität zu­rückkeh­ren. Doch weitere, noch viel größe­re Verbrechen, wie ein Massa­ker an mehreren Hundert Zen­tralamerikanern nahe der Haupt­stadt, zieht die öf­fentliche Aufmerk­samkeit von Santa Rita ab. Das NkM beschwich­tigt mit im­mer neuen Verlautba­rungen, deren For­meln der Anteilnahme und großspu­rige Ankün­digungen nichts als hohle Text­baustein-Phrasen sind, ein geradezu zyni­scher Umgang des Staates mit seinem Volk.

Irma aber lässt sich nicht beir­ren. Trotz offe­ner Widerstände und wach­sender Ge­fahren setzt sie sich mu­tig ein, um die ver­blie­benen Flüchtlinge zu schützen und die Ver­antwortli­chen zur Re­chenschaft zu ziehen. Die wollen sich das nicht bieten las­sen, und so geht das Morden weiter, bis Irma und ihre Tochter an der Reihe sind.

Bitterer Sar­kas­mus, dazu ein unge­wöhnlicher, fesselnder Sprachstil, eine lebhafte Struktur und die Vielfalt der Stimmen zeichnen Anto­nio Ortuños Krimi aus. Was er sei­nem Leser an drastischen Schilderun­gen zu­mutet, wird nicht jeder ver­kraften. Sol­che kom­promisslose Darstellun­gen von Missbrauch, Ausbeutung, Demütigung, Vergewalti­gung, Ver­stümmelung, Tötung wie in diesem Buch hat man selten gele­sen.

Und doch über­zeichnet Ortuño die Wirklichkeit seines Hei­mat­landes keines­wegs. Die Rea­lität holte die Fiktion ein, als am 26. Septem­ber 2013 in Iguala, Bun­des­staat Guerrero, 43 indigene Stu­denten ver­schwanden und später einige ihrer teilweise verbrannten Körper in einem Mas­sengrab ganz in der Nähe ge­funden wur­den. Wenn es eine Hölle auf Erden gibt, dann liegt sie viel­leicht in Me­xiko.


War dieser Artikel hilfreich für Sie?

Ja Nein

Hinweis zum Datenschutz:
Um Verfälschungen durch Mehrfach-Klicks und automatische Webcrawler zu verhindern, wird Ihr Klick nicht sofort berücksichtigt, sondern erst nach Freischaltung. Zu diesem Zweck speichern wir Ihre IP und Ihr Votum unter Beachtung der Vorschriften der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Nähere Hinweise finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Indem Sie auf »Ja« oder »Nein« klicken, erklären Sie Ihr Einverständnis mit der Verarbeitung Ihrer Daten.

Klicken Sie auf die folgenden Links, um sich bei Amazon über die Produkte zu informieren. Erst wenn Sie dort etwas kaufen, erhalte ich – ohne Mehrkosten für Sie! – eine kleine Provision. Danke für Ihre Unterstützung! Mehr dazu hier.

»Die Verbrannten« von Antonio Ortuño
erhalten Sie im örtlichen Buchhandel oder bei Amazon


Kommentare

Zu »Die Verbrannten« von Antonio Ortuño wurde noch kein Kommentar verfasst.

Schreiben Sie hier den ersten Kommentar:
Ihre E-Mail wird hier nicht abgefragt. Bitte tragen Sie hier NICHTS ein.
Ihre Homepage wird hier nicht abgefragt. Bitte tragen Sie hier NICHTS ein.
Hinweis zum Datenschutz:
Um Missbrauch (Spam, Hetze etc.) zu verhindern, speichern wir Ihre IP und Ihre obigen Eingaben, sobald Sie sie absenden. Sie erhalten dann umgehend eine E-Mail mit einem Freischaltlink, mit dem Sie Ihren Kommentar veröffentlichen.
Die Speicherung Ihrer Daten geschieht unter Beachtung der Vorschriften der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Nähere Hinweise finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Indem Sie auf »Senden« klicken, erklären Sie Ihr Einverständnis mit der Verarbeitung Ihrer Daten.


Go to Top