Der trügerische Augenschein
Aus der Ewigen Stadt in den barbarischen, öden und obendrein kalten Norden nahe der Schweizer Grenze versetzt zu werden ist für einen eingefleischten Römer eine schwer erträgliche Strafe, und zwar unter zivilisatorischen, kulinarischen, kulturellen, menschlichen und klimatischen Gesichtspunkten.
Rocco Schiavone hat dieses Schicksal ereilt, nachdem er sich mit dem Sohn eines Staatsanwalts geprügelt hatte. Ein langes halbes Jahr quält sich der Dauergrantler jetzt schon in den bitterkalten schneereichen Gefilden des Aostatals, hat auch einen ersten Fall gelöst, aber von Gewöhnung, Einleben, geschweige denn Anpassung kann keine Rede sein. Widerborstig wie er nun mal ist, beharrt er auf seinen geliebten Clarks an den Füßen, als könne er dadurch die Macht des Stärkeren über die Naturgewalten demonstrieren. Dabei zeugt sein Verschleiß solcher Schläppchen nur von verlorenen Schlachten. Oberbekleidungsmäßig fügt er sich notgedrungen dem Zwiebelprinzip, um gegen die Unbilden des ätzenden Märzwetters zu bestehen: T-Shirt, Flanellhemd, Kaschmirpullover, grünes Cordjackett und Lodenmantel, darunter die ewig gleiche braune Cordhose.
So macht sich Vicequestore Schiavone (wehe man spricht ihn als »Commissario« an!) jeden Morgen auf den Weg zur Questura, nachdem er sich mit einem dahingebrummelten »Scheiße« erneut von der Hoffnung auf einen Sonnenstrahl verabschiedet hat. Am Arbeitsplatz erwarten ihn seine Mitarbeiter D'Intino und Deruta, beide unsagbar unfähig, eine Art Catarella (aus Andrea Camilleris »Montalbano«-Krimiserie [› Übersicht]) im Doppelpack. Gut, dass Schiavone in seiner Schreibtischschublade immer einen Stimmungsaufheller bevorratet: Ein Joint am Morgen verscheucht die Sorgen.
Glücklicherweise hat der Vicequestore neben ›Dick und Doof‹ noch zwei tüchtige Mitarbeiter. Caterina Rispoli und Italo Pierron sind die einzigen Lichtblicke im trüben Alltag der öden Amtsstube in der Questura. Bei Agente Italo kann man Zigaretten schnorren (wenn auch nur die verhasste Marke Chesterfield), und man kann mit ihm Pferde stehlen – geradezu im wörtlichen Sinne, falls einmal eine Aktion die Grenzen der Legalität touchieren sollte (was bei Schiavones Methoden so irreal nicht ist). Damit erachtet Rocco den Kollegen »des Polizeiberufs für würdig«. Aber Vorsicht mit voreiligen Verbrüderungshoffnungen: So weit, dass man den Vorgesetzten innerhalb des Polizeigebäudes duzen dürfe, geht die Sympathie nun auch wieder nicht.
An diesem Freitagmorgen bringt Italo eine verquere Meldung ins süßlich riechende Vicequestore-Büro. »In der Wohnung eines Ehepaars [sind] Diebe eingesperrt.« Wie geschickt Italo wenige Minuten später den Dienstwagen durch den Stadtverkehr zum Tatort in der Via Brocherel bugsiert, speichert sein Chef gut ab – für den Fall, dass er einmal derlei Qualifikationen bedarf, etwa für einen Überfall auf einen Geldtransporter ...
Als sich die beiden Polizisten anschicken, die angeblich verbarrikadierten Diebe aus der Wohnung des Ehepaars Baudo zu befreien, werden sie freilich mit einem ganz unerwarteten anderen Delikt konfrontiert. Die Räume sind verwüstet, Diebe weit und breit keine zu finden, dafür wartet im Schlafzimmer eine grausige Szene. Von der Deckenlampe baumelt die Dame des Hauses im türkisgrünen, unter der Achsel aufgerissenen Nachthemd ...
Mit dem zweiten Fall für seinen sperrigen, aber nicht unsympathischen Helden hat sich Antonio Manzini (der hauptsächlich als Film- und Fernsehschauspieler bekannt ist) frei geschwommen. Die Handlung von »La Costola di Adamo« (Übersetzung: Anja Rüdiger) ist geradliniger, die Personalbesetzung der Questura wächst uns langsam ans Herz. Der multimedial erfahrene Krimileser wird den Plot schnell durchschauen und sich statt komplexen Schlussfolgerungen lieber dem trockenen, stark dialogbetonten Erzählstil überlassen. Auf Kosten der beiden Dödel D'Intino und Deruta lacht man gern, und in vielen Dialogen steckt kerniger, kompakter Wortwitz (typischer Schlagabtausch zwischen Raubein Rocco und Justizbeamten: »›Ich habe schon viel von Ihnen gehört‹, sagte [Aldo Messina] mit Nachdruck. ›Und trotzdem geben Sie mir die Hand?‹ Messina lächelte. ›Da bin ich nicht so wählerisch.‹«). Und was den Fall angeht, den Schiavone zu knacken hat, so hält Antonio Manzini bis zuletzt noch ein Ass für ihn im Ärmel zurück, mit dem auch wir Leser nicht rechnen.
Die »Kälte des Todes« ist unterhaltsame, leicht verdauliche Krimikost für verregnete Frühlings- und Sommertage. Die Handlung vollzieht sich überwiegend in der Stadt Aosta, die Erzählweise bringt wenig lokales Kolorit. So löst das Buch kaum typische Italien-Stimmung aus (was immer man unter dem Stichwort erwartet) – aber das ist ja auch nicht Manzinis Aufgabe als Krimiautor. Sein Protagonist steht mit einem Bein noch immer in Rom. Er wuchs in Trastevere auf, und das dortige kleinkriminelle Milieu mit seinen eigenen Ehrenkodizes hat ihn bis heute geprägt. So ist er gewiss kein Heiliger der Gesetzestreue, auch wenn er – ganz anders als viele seiner Kumpels – die Polizistenlaufbahn eingeschlagen hat. Manchmal kehrt er in seine Heimatstadt zurück, wo er offene Rechnungen zu begleichen hat, und dieser zweite Handlungsstrang, der bereits im ersten Band angelegt wurde, wird auch die nächsten beiden durchziehen, die in Italien 2015 erschienen.
Eine aktuelle Übersicht über die bislang erschienenen Bände von Antonio Manzinis Rocco-Schiavone-Reihe finden Sie am Ende meiner Rezension zu »Alte Wunden«.