Die lange Flucht vor der Verantwortung
Viele Jahre vergehen, und viele Seiten sind zu studieren, ehe David Winkler es schafft, an den Ort seiner Kindheit zurückzukehren. Erst als fast Sechzigjähriger stellt sich der passionierte Hydrologe endlich der Wahrheit.
Wasser ist die große Passion des kauzigen, einsamen Protagonisten dieses Romans, und so beschreibt der Autor das Element sehr ausführlich in all seinen Aggregatszuständen und Vorkommensweisen, auch im menschlichen Körper. Doch es ist »eine unberechenbare, launische Substanz: nichts Festes, nichts Permanentes und nichts, was so war, wie es schien«. Erwecken die bezaubernden sechsstrahligen Kristallsterne der Schneeflocken oder gefrorener Eisblumen am Fenster in ihrer unendlichen Vielfalt nicht den Eindruck feinster, aber fester Körperchen? »In Wirklichkeit, auf einem extrem kleinen Niveau, kleiner als ein paar Nanometer, vibriert der Kristall wie verrückt, und all die Moleküle, aus denen er sich zusammensetzt, summen unsichtbar vor sich hin und verzehren sich letztlich von selbst«, erläutert Winkler einen Passus aus seiner Doktorarbeit.
Dass ausgerechnet in dem Stoff, der Winkler so fasziniert und den er geradezu liebt, zwei Menschen umkommen müssen, ist eine üble Ironie des Schicksals. Ebenso wenig Glück bringt ihm eine zweite bemerkenswerte Eigenschaft, eine übernatürliche Gabe, die der kluge Anthony Doerr so sparsam einsetzt, dass sein Buch genug Abstand vom Mystery-Genre wahrt. Sie ist jedoch der zentrale Schlüssel für den Plot und für die Wandlung des Protagonisten.
Schon als Kind ist David Winkler, Anfang der Vierzigerjahre in Anchorage, Alaska, geboren, ein verträumter Einzelgänger und Bücherwurm. Neben ganz normal verrückten Sachen, wie sie jedes Gehirn produziert (»Eiszapfen, die aus der Zimmerdecke wuchsen ...«), träumt er anderes, das ihn beunruhigt, weil es wiederkehrt, ihn verfolgt, Nacht für Nacht, manchmal am Tag, bis es endlich verblasst – Déjà-vu-Erlebnisse, Erinnerungen, Alltagsszenen. Bei wieder anderen Träumen aber ist er sicher: »Es war – Wissen« über schreckliche Ereignisse, tödliche Unfälle etwa, die erst noch geschehen würden. Eine Hellsichtigkeit, die Winkler als schwere Belastung empfindet.
Nur einmal erweist ihm seine Gabe einen freundlichen Dienst. Als er zweiunddreißig Jahre alt ist, träumt er von der Frau, die er heiraten wird. Er wird ihr in einem Supermarkt begegnen, sie wird eine Zeitschrift fallen lassen, und genau so lernt er die Bankangestellte Sandy kennen und lieben. Die beiden ziehen nach Cleveland, Ohio, wo bald ihre gemeinsame Tochter Grace geboren wird.
Aber das Glück ist flüchtig wie ein Eiskristall. Bei einem Unwetter überschwemmt der Ohio River die Stadt und auch das Haus der jungen Familie. Wie Winkler es mehrere Nächte hintereinander in einem immer gleichen Alptraum vorhergesehen hatte, gelingt es ihm, seine fünf Monate alte Tochter aus dem Haus zu schaffen, doch in den reißenden Fluten kann er sie nicht halten und muss sie loslassen. »Die Zukunft wartete darauf, dass er seine Verabredung einhielt.«
Winkler aber glaubt, dem Schicksal, dessen tödlichen Ausgang er kannte, eine andere Wendung geben zu können, wenn er, der Verantwortliche, sich aus der prekären Situation herausstiehlt. Deswegen läuft er davon, lässt Frau und Kind im Stich. Erst viele Jahre später kann er sich diese persönliche Schuld, sein Versagen aus Angst, eingestehen.
Winklers Flucht trägt ihn weiter nach Süden. Er strandet auf einer Karibik-Insel, wo er ein einfaches Leben als Gärtner führt. Fünfundzwanzig Jahre lang leistet er hier eine Art Abbitte, denn seine Gedanken kreisen immer wieder um seine Tochter Grace, die vor seinen Augen in den Fluten versank.
Auch seine Traumvisionen lassen ihm keinen Frieden. Erneut suchen ihn schreckliche Bilder heim, wie die Tochter guter Freunde mit ihrem Boot kentert und ertrinkt. Dieses Mal aber ist er entschlossen, die Realität nicht mehr von seinen Alpträumen bestimmen zu lassen, sondern beherzt in das Geschehen einzugreifen.
Die späte Einsicht des gealterten Mannes, dass man den Lauf des Lebens wenigstens in gewissem Rahmen selber gestalten und manchen Schicksalsschlag abwenden kann, macht ihn jetzt frei und stark genug, sich der Vergangenheit zu stellen. Die Suche nach seiner Frau Sandy und seiner Tochter Grace gerät zu einer Odyssee, die ihn durch mehrere Staaten Amerikas schließlich zurück an den Ursprungsort Anchorage führt und auf den letzten zweihundert Seiten zur Geduldsprobe für den gespannten Leser wird.
»About Grace« ist der bereits 2004 erschienene Debütroman des US-Autors Anthony Doerr. Sein literarisches Talent, seine Fähigkeit, sich bis in die kleinsten Details zu versenken, fasziniert bereits in seinem Erstlingswerk, blieb aber weitgehend unbeachtet. Erst mit seinem zweiten Roman, »Alles Licht, das wir nicht sehen« [› Rezension], der den Pulitzer-Preis erhielt, fand der Autor weltweit Anerkennung bei Kritikern und Lesern. Verständlich, dass der C.H. Beck-Verlag seiner deutschsprachigen Erstausgabe von 2005 (Übersetzung: Judith Schwaab) jetzt eine »Sonderausgabe« nachschiebt und auf größere Aufmerksamkeit auf dem Markt hofft.
Was aber ist während der Unwetterkatastrophe in Cleveland tatsächlich mit Sandy und Grace geschehen? Selbst über seitenlange, akademisch präzise Beschreibungen hin hält diese Frage die Spannung aufrecht, lässt den Leser auf die erlösende Erklärung hoffen. Sie kommt schließlich, doch man muss sie sich mit viel Geduld verdienen.