Die Töchter des Bärenjägers
von Anneli Jordahl
Sieben Schwestern werden von ihrem wilden Vater zu wilden Kriegerinnen geformt, schaffen es aber nicht, in der Wildnis Finnlands ein menschenwürdiges Leben zu führen.
Ins Abseits geschoben
Die schwedische Autorin Anneli Jordahl, geboren 1960, erzählt uns eine Geschichte, die – anders als wir lange vermuten – keineswegs in einer fernen Vergangenheit spielt. Zu unserem Eindruck verleitet nicht zuletzt der Schauplatz: ein abgelegener, einsamer Bauernhof in Finnland, wo der kräftige Heikki Leskinen wie ein Patriarch mit seiner Frau Louhi und sieben Töchtern im Alter von zwölf bis zwanzig Jahren wohnt. Ihre Lebensweise mutet zudem archaisch an: Der Vater ist Bärenfänger und oft für Wochen abwesend. Wenn er dann nach Hause zurückkehrt, erfreut er Frau und Kinder mit abenteuerlichen Geschichten und genießt die Bewunderung, die ihm dafür zufällt – wie auch die Frauen aus der Nachbarschaft den ungezügelten, wilden Mann verehren. Die Erziehung seiner Töchter (darunter zwei Zwillingspaare) besteht nicht etwa darin, ihnen Lesen und Schreiben beizubringen, sondern ihnen schlichte, praktische Regeln mit auf den Weg zu geben. So schärft er ihnen beispielsweise ein, dass man alles meiden sollte, was mit staatlichen Behörden zu tun haben könnte. In Folge dieser Auffassung sind síe nirgendwo gemeldet, haben keine Ausweise und kennen keine der Errungenschaften der Zivilisation wie Elektrizität, Motorisierung, erst recht Computer und Handys. Ganz oben in seinem Regelwerk aber steht: »Scheißt auf die Männer.« Die Töchter sollen, wenn sie nicht ewig unterdrückt sein wollen, den Umgang mit Männern meiden und ein Leben als Kriegerinnen führen.
Wohin es führt, sollten sie den väterlichen Rat missachten, können die Töchter seit jeher live verfolgen. Denn das Zusammenleben der Familie ist ein emotionaler Horror. Tag für Tag erlebt Louhi Demütigungen, nie erfährt sie Zeichen der Zuneigung als Ehefrau und Mutter, einzig in ihrer Funktion als Gebärende wird sie anerkannt. Selbst ihre Töchter hassen sie. Es ist ihnen schleierhaft, was die Eltern jemals aneinander geschätzt, geschweige denn geliebt haben mögen. (Erst viele Jahre später wird ihnen das Tagebuch, das die Mutter geführt hat. die Augen öffnen.) Während ihre Mutter ein Leben als niedere Dienstmagd fristet, lehnen die Mädchen jegliche »Weiberarbeit« ab. Ohne Aufgaben und Pflichten genießen sie eine ungezügelte Freiheit, toben, grölen, prügeln sich und schießen, wie vom Vater gern gesehen, Eichhörnchen, um deren Hirn zu essen (»fett und schmackhaft«).
Als eines Tages der Vater von einem Bären getötet wird und auch die Mutter stirbt, sind die Mädchen plötzlich ganz auf sich gestellt, und es erweist sich, dass sie auf ein eigenständiges Leben völlig unvorbereitet sind. Der Bauernhof ist marode, die Tiere sind aus Vernachlässigung verwahrlost und schier verhungert. Die Option, dies alles und ihr eigenes Dasein mit ihrer Hände Arbeit zu richten, ist den Schwestern bewusst, aber sie verwerfen sie schnell, denn es mangelt ihnen an Geld und Material, insbesondere aber an Lust zu arbeiten. Stattdessen ziehen Johanna, die Zwillinge Tiina und Laura, die gottgläubige Simone, die Zwillinge Tanja und Anne, schließlich Elga, die jüngste und scharfsinnigste von allen, in die karge Jagdhütte ihres Vaters im Wald, wo es kein Wasser, keinen Spiegel, keine Uhr gibt.
In dieser Umgebung verwildern die Mädchen vollends. Planlos leben sie in den Tag hinein, führen ein hemmungsloses Lotterleben, vernachlässigen ihre Körper, bis sie aus allen Poren stinken, die Haare verfilzen, die zerfleddernde Kleidung an ihnen herunterhängt. Sie füllen ihren Alltag mit derben Machtkämpfen, rauchen und saufen bis zur Besinnungslosigkeit, kennen bei ihrer Wortwahl, der moralischen Haltlosigkeit wie bei der Ausübung von Gewalt keine Grenzen. Nichts und niemand stimuliert einen Lernprozess hin zu einem zivilisierteren Umgang miteinander.
Johanna, die älteste, erklärt sich zur Stammesführerin, zum Häuptling, ordnet an, was sie für richtig hält, und unterdrückt jeden Widerstand mit schweren körperlichen Strafen. Zwar versuchen die Jüngeren und Schwächeren, sich der schmerzhaften Willkür zu entziehen, doch jede kämpft für sich allein. Geschwisterliche Gefühle, Solidarität und Verantwortung kommen nicht auf. Als eine von ihnen im Wald verschwindet und nicht mehr auftaucht, weint man ihr keine Träne nach.
Die entscheidende Bewährungsprobe steht mit dem eiskalten Winter bevor, auf den die kleine Gruppe mangels Vorkehrungen schutzlos zutreibt.
Während die Mädchen einmal auf dem Markt ihre Waren feilboten, trat eine weitere Person in ihr Leben, aus deren Perspektive es erzählt wird. Es ist die Heimatforscherin Sunniva, die gleich im ersten Kapitel berichtet, wie sie drei fast gleich aussehende, völlig verwahrloste Mädchen beobachtet und fotografiert. Deren Erscheinungsbild und die Präsentation ihrer Produkte – Fuchsschwänze, »Bären fleisch. Süß Walthimbeeren« – schrecken mögliche Kunden eher ab, aber auf Sunniva springt, als Feindseligkeit und eine unmissverständliche Drohgebärde sie persönlich treffen, eine elektrisierende Energie über, und ihre Neugierde ist geweckt. Sie recherchiert auf den Ämtern und hört zu, wenn die Dörfler über die ungezähmte Horde und deren Familie plaudern. Sie reichert ihre Rechercheergebnisse mit eigenen Gedanken und Theorien an und entwickelt schließlich die intensive Handlung mit Fantasie und Poesie, so dass Beschreibungen entstehen, die unsere Vorstellungskraft beflügeln und starke Bilder im Kopf entstehen lassen.
Anneli Jordahls »Björnjägarens döttrar« wurde 2022 in die Shortlist für Schwedens renommiertesten Literaturpreis aufgenommen und von Nina Hoyer ins Deutsche übersetzt. Für ihre Grundidee hat sich die Autorin von einem finnischen Klassiker aus dem Jahr 1870 inspirieren lassen. Auch in Aleksis Kivis Roman »Die sieben Brüder« lebt eine neunköpfige Familie weitab der Zivilisation auf einem Bauernhof. Als die Eltern sterben, sind die sieben Söhne zwischen achtzehn und fünfundzwanzig Jahre alt und ergreifen ihre Chance auf grenzenlose Selbstbestimmung. Sie verpachten den Bauernhof, ziehen in die Einöde und genießen dort ein ungezügeltes Dasein. Sie saufen, prügeln sich, philosophieren, üben sich in Schreiben und Lesen. Nach zehn Jahren anarchischen Freiheitsgenusses kehren sie zu ihrem heimatlichen Hof zurück und gründen eigene Familien.
Abgesehen von der bisweilen unter die Haut gehenden Erzählweise konnte mich Anneli Jordahls Variante von Kivis Plot mit umgekehrten Vorzeichen nicht so richtig überzeugen. Allzusehr hat die Autorin ihre Charaktere reduziert und über einen einzigen Kamm geschoren: Kraft, Gewalt und Männlichkeit bewundern sie, während ihnen jegliche Weiblichkeit genommen ist. Zarte Lichtblicke erhellen das Konstrukt nur unwesentlich. So hat sich eines der Mädchen selbst das Lesen beigebracht, möchte ihre Fähigkeiten weiterentwickeln und auch ihre Schwestern motivieren, aber die sind für so etwas nicht zu interessieren. Was ist also Jordahls Konzept? Es gibt genug Fiktionen von Menschen, die in eine widrige Umgebung geworfen werden (»Robinson Crusoe«, »Lord of the Flies«) und sich dort bewähren oder scheitern, was Rückschlüsse darauf zulässt, welches Weltbild der Autor vermittelt. Die Schwestern Leskinen hingegen entwickeln sich nicht. Ihr Umzug in die Wildnis ist kein Programm der Abkehr von einer kritisch betrachteten Zivilisation, sondern einfach nur die geradlinige Fortsetzung dessen, was sie von Geburt an gezwungenermaßen gelebt haben. Da sie weder reflektieren noch konsequent handeln, um sich in ihrer feindlichen Umgebung zu behaupten, ist auch ihr Scheitern alternativlos. Ihnen fehlen einfach entscheidende Züge der Menschlichkeit. Selbst nach ihrer (ungewollten!) Rückkehr in die Zivilisation finden nur wenige von ihnen Motivation, ihre Zukunft zu gestalten, und ihr Stamm ist zerfallen.
Mein Fazit: Dieses befremdliche, mittelalterlich anmutende Pseudomärchen von wilden Mädchen in finnischen Wäldern wirkt konstruiert, unserer Jetztzeit entrückt und lässt jeden Tiefgang vermissen.