Überzogener Trauerkult
Eifersucht unter Geschwistern ist weder selten noch unnormal. Sie belebt den Alltag vieler Familien. So mancher kleine Bruder mag innerlich seufzen und »es kaum erwarten, sie endlich loszuwerden«, die große Schwester …
James Aaron Matthews, der zehnjährige Ich-Erzähler, meint das allerdings todernst. Die Schwester, der sein Wunsch gilt, heißt Rose, und sie residiert in der Tat, ganz wie der befremdliche Titel das sagt, auf dem Kaminsims, und zwar in Gestalt einiger Aschepartikel in einer Urne.
Vor fünf Jahren fütterte Rose vergnügt die Tauben auf dem Trafalgar Square, als urplötzlich die Detonationen islamistischer Terror-Bomben sie und das Leben der Familie Matthews zu einem Nichts atomisierten. Seither leben Mum und Dad in der Vergangenheit. Streitereien und Schuldzuweisungen trieben sie auseinander. Mum hat einen neuen Lebenspartner gefunden; Dad zog vor kurzem mit Jamie und Roses Zwillingsschwester Jasmine, 15, aufs Land, in den Lake District.
Wie Jamie befürchtete, hat Dad die Reliquie aus London mitgenommen. Während Mum die paar Knöchelchen, die ihr von ihrem geliebten Engel verblieben waren, in einen Sarg legte und in einem Grab bestatten ließ, will Dad seine Rose immer in seiner Nähe wissen. Allen Ernstes geht er mit ihren spärlichen Überresten um, als sei das Mädchen noch am Leben, und lässt ihnen sogar mehr Zuwendung angedeihen als seinen lebendigen beiden Kindern und seiner Frau.
Seinem wichtigsten Familienmitglied hat Dad ein Zimmer eingerichtet. Nur er darf dieses Heiligtum betreten, in dem er Roses Kleidung, eine »müffelnde rosa Decke«, »abgegrapschte« Plüschtiere und Puppen in Umzugskartons konserviert – etwa für alle Ewigkeit?
Jamie, der sich an Rose kaum erinnern kann, wird dagegen allein gelassen mit seinen Fragen, Sehnsüchten und verqueren Gefühlen. Warum sind sie keine normale Familie? Warum haben sich die Eltern getrennt? Warum lebt Rose immer noch, obwohl sie doch nur noch grauweißer Staub ist? Warum registriert keiner, dass es hier zwei Kinder gibt, die sich nach Liebe sehnen? Warum kommt Mum nicht zu Besuch?
Jasmine kümmert sich liebevoll um ihren Bruder und versucht ihm auch die Enttäuschung zu ersparen, dass Mum ihr eigenes Leben ohne die beiden Kinder gefunden hat. Dabei ist das Mädchen selber zutiefst verletzt. Früher wurde sie stets mit ihrem Zwilling verglichen, musste die gleiche Kleidung tragen. Dann traf auch sie der Verlust. Jetzt isst sie kaum noch, nimmt immer mehr ab.
Ob jetzt im idyllischen Lake District doch noch alles anders wird? Jamie wird in eine neue Schule gehen, neue Freunde finden. Vielleicht wird Dad sich endlich fangen, mit dem Trinken aufhören, wieder ein liebender Vater sein. Wenn Mum sie hier besuchen kommt, würden sie womöglich am Ende wieder eine glückliche Familie …
Für solche Ziele sind Jamie und Jasmine bereit zu kämpfen. In der Schule ahnt niemand etwas von der familiären Situation, und Jamie baut zum Schutz eine Welt aus lauter Lügen auf. Aber die Mitschüler durchschauen schnell, dass da etwas nicht stimmt; sie mobben und isolieren Jamie. Auch dem Vater gegenüber wahrt der Junge eine Fassade und täuscht ihm vor, wie sehr ihm seine Schwester fehle. Jasmine dagegen präsentiert ein starkes neues Ego: schwarzes Outfit, grell pinkgetönte kurze Haare, dazu einen Freund. Das gibt Ärger mit Dad – und noch größeren, als auch Jamie eine Freundin findet, denn Sunya ist Muslima …
Annabel Pitchers Roman »My Sister Lives on the Mantelpiece« (übersetzt von Sibylle Schmidt) ist ein ungewöhnliches Unternehmen. Da wird eine Familie von einer Sekunde zur anderen in eine wahrhaft extreme Situation katapultiert; die Eltern werden in ebenso extreme Wege der Bewältigung abgedrängt, und erzählt wird dann das Ganze aus der Perspektive eines selbst direkt betroffenen Knaben, der anfangs nicht annähernd reif ist, zu durchschauen, was geschieht. Obendrein hat er eigene Nöte zu bewältigen.
Aus dem kindlich-naiv beobachtenden Blickwinkel heraus wird zwar auf anrührende Weise deutlich, dass die Eltern sich und ihre Kinder in eine Sackgasse manövrieren. Nachdem ihnen jegliche Zukunft, jeglicher Lebenssinn genommen worden zu sein scheint, schaffen sie es einfach nicht, ihre Trauer zu bewältigen, Abschied zu nehmen, ihre anderen Kinder als lohnende Aufgabe anzunehmen. Wer würde das nicht verstehen, wer würde sie dafür kritisieren?
Um ein ermordetes Kind trauern zu müssen, das muss die Hölle sein. Doch was Annabel Pitcher sich an »Bewältigungsverhalten« ausgedacht hat, ist denn doch etwas zu stark aufgetragen. Als makaber kann man ihr Konstrukt nicht bezeichnen, weil nirgends ironische Distanz erkennbar wird; um als realistisch ernstgenommen zu werden, sind die Verhaltensweisen der Eltern zu maßlos überzeichnet; um sie als tragischen Irrweg begreifen zu können, reicht die Perspektive Jamies nicht aus. So schlägt unser Herz mehr für die sich selbst überlassenen Kinder, insbesondere den lebensklugen, tapferen Jamie, während für die Eltern trotz ihres Leides nur Ratlosigkeit, wenn nicht gar Unverständnis bleibt.
Ein unbefriedigendes Buch: In seiner Überzogenheit gibt es weder zum Schmunzeln noch zum Weinen Anlass, aber einfach ad acta legen mag man es auch nicht.