Kreative Auslagerung
Rebecca Winter ist sechzig. Anstatt die Vorzüge des Ruhestands zu genießen, ist sie auf der Suche nach etwas, das ihr neue Orientierung, einen neuen Halt im Leben geben kann. Ihre aus Jahrzehnten vertraute Umgebung – das mondäne, quirlige, glamouröse Manhattan – musste sie hinter sich lassen. Ihr nobles Apartment dort hat sie vermietet und ist aufs Land gezogen. Hier wohnt man viel billiger, muss sich aber auch damit zufrieden geben, dass das Häuschen vom Erdboden bis zum Dach marode ist, dass im Dorf nur der Tea Room Internet bietet und dass sich in der Nachbarschaft nicht Künstler und Intellektuelle tummeln, sondern Waschbären gute Nacht sagen. All das nimmt Rebecca hin, immer in der Hoffnung, in ihrem Exil so viel Geld sparen zu können, dass sie sich möglichst bald die Heimkehr nach New York leisten kann.
Ihre besten Jahre begannen, als Rebecca in ihre Dreißiger kam. 1982 wurde die junge Fotografin als jüngste Preisträgerin überhaupt mit dem J.P. Bradley-Preis ausgezeichnet. Die New York Times druckte einen Bericht darüber, doch das Preisgeld war im Rückblick eine lächerlicheSumme: tausend Dollar. Bald danach feierte Rebecca Erfolge ganz anderer Dimensionen und scheffelte richtig Geld.
Mit sechsunddreißig ist Rebecca neben ihrer künstlerischen Tätigkeit auch Ehefrau, Hausfrau und Mutter eines Kleinkindes. Für Peter, ihren Gemahl, nichts Besonderes. Das bisschen Haushalt erledigt sich für ihn wie von Zauberhand. Gern bringt er unangekündigt Gäste zum Abendessen mit und zieht sich danach zur wohlverdienten Nachtruhe zurück, während Rebecca sich des Durcheinanders in der Küche annimmt. Kein Wunder, dass sie von ihrem Familienleben desillusioniert, wütend, verzweifelt und erschöpft ist. In einem Moment tiefer Frustration schlägt ihre große Stunde. Sie fotografiert einen Ausschnitt des Chaos, das ihr nach einem Abendessen wieder einmal zu treuen Händen hinterlassen wurde.
Als sie das Bild unter dem Titel »Stillleben mit Brotkrümeln« (so lautet auch der Originaltitel des Romans) in einer Ausstellung präsentiert, verschlägt es ihr schier den Atem, was die Kritiker und die Medien damit anstellen. Sie sehen »eine entfernt flämisch anmutende Komposition aus benutzten Weingläsern, gestapelten Tellern, den abgerissenen Resten zweier Baguettestangen und einem Küchentuch, dessen eine Ecke von der Flamme des Gasherds ein wenig angesengt war«. Vor allem aber erkennen sie die tiefere Bedeutung.
Im Wortteil »Still-«, so schreibt eine Theoretikerin in ihrem Aufsatz, drückt sich aus, »wie sinnentleert das Dasein der durchschnittlichen amerikanischen Hausfrau sei«. Die Brotkrümel seien eine wunderbare »Anspielung auf Hänsel und Gretel« – »eine Spur, um gefunden, befreit und nicht bei lebendigem Leib verschlungen zu werden«. Die kühnen Interpretationen von immer mehr Kunstkritikern und Essayisten zünden einen Hype um die »Küchentisch-Serie«, der Rebecca auf das Podest einer »feministischen Ikone« hebt, zur Apologetin der amerikanischen Hausfrau befördert. Mir nichts, dir nichts prangt das Foto lukrativ auf »Zeitschriften, Postkarten, T-Shirts, sogar als ironische Werbung zum Muttertag« und wird schließlich als schlichtes großformatiges Poster vermarktet.
Der Rubel rollt. Jahrelang wirft das Kunstwerk Tantiemen ab, die einen feinen Lebensstil im Jet Set, ausgiebige Reisen in die Provence und die Toskana und Peters Vorliebe für edle Weine finanzieren. Paradoxerweise verspürt Rebecca mit dem stetig wachsenden Erfolg eine zunehmende Unsicherheit in sich selbst. Peters uneingestandener Neid, seine zahlreichen Seitensprünge und seine kaum gebremsten Emotionen unterminieren die ehelichen Beziehungen, bis sich die beiden schließlich scheiden lassen.
Auch der einstige Ruhm verblasst. Neue Ikonen nehmen Rebeccas Platz ein, die Leitbilder wandeln sich immer rascher, ihre Fotos sind nicht mehr gefragt, das Vermögen schmilzt dahin. Gleichzeitig muss sie neue Ausgaben schultern. Sohn Ben ist zwar längst flügge, findet aber keine Arbeit und liegt der Mama auf der Tasche. Rebeccas Mutter leidet an Demenz und wird in einem Pflegeheim versorgt – noch ein teurer Posten, für den Rebecca aufkommen muss.
In dieser Phase des Umbruchs präsentiert uns Anna Quindlen ihre Protagonistin. Doch die lässt sich nicht unterkriegen. Sie macht Wanderungen rund ums Haus, entdeckt neue Fotomotive, ein Hund läuft ihr zu. Täglich besucht sie den Tea Room, um dort ihre Mails abzurufen. In Sarah, der geschwätzigen Besitzerin, lernt sie eine treue Anhängerin kennen, die ihr voller Bewunderung ihre köstlichen hausgemachten Scones schenkt.
Für »the Artist Formerly Known as Rebecca Winter« ist das Leben noch keineswegs zu Ende. Wenngleich sie sich erst gar nicht mit dem einfachen Landleben anfreunden kann, findet sie doch bald neue Menschen und neue Inhalte. Und natürlich kommt ein neuer Mann ins Spiel. Wir lernen ihn gleich in der ersten Szene kennen. Da schreckt ein Gewehrschuss die soeben Zugezogene mitten in der Nacht aus dem Schlaf. Jim Bates, Dachdecker und Jäger, hat einen Waschbären auf dem Dach aufs Korn genommen ...
Von solchen und vielen anderen Begegnungen, vom Älterwerden und vergänglichem Glück erzählt Anna Quindlen in ihrem charmanten Wohlfühlroman »Still life with bread crumbs« , den Tanja Handels übersetzt hat. Es ist unterhaltsame, leichte Kost voll freundlicher Ironie, unaufdringlicher Lebensklugheit und robuster Romantik.