Das Leuchten der Rentiere
von Ann-Helén Laestadius
Im weiten Siedlungsgebiet der Sámi nehmen sinnlose, grausame Rentiertötungen überhand. Obwohl die Verbrechen die Lebensgrundlage der ohnehin benachteiligten ethnischen Minderheit gefährden, werden sie von Öffentlichkeit und Behörden nicht ernst genommen. Eine selbst betroffene junge Frau ergreift die Initiative – und erkämpft sich auch ihren Platz im Leben.
Ein Volk wird übersehen
Die neunjährige Elsa ist stolz und glücklich. Ihr Vater hat ihr ein junges Rentierkalb geschenkt. Mit seinem markanten weißen Fleck auf der Stirn ist es ein besonders hübsches. Und weil Elsa Verantwortung dafür tragen darf, ist sie jetzt groß. Aber ihr Glück endet jäh. Als sie eines Abends auf ihren Skiern zum Rentiergehege fährt, um die Fütterung vorzubereiten, findet sie das Tier grausam getötet am Zaun. Daneben sieht sie den Mann, der die herzlose Tat mit seinem Messer begangen hat. Sie erkennt ihn – er wohnt nicht weit weg. Indem er jetzt das Ohr ihres Kälbchens abtrennt, entfernt er die Markierung, die sie als Eigentümerin nachweist. Damit ist er nicht nur ein Mörder, sondern auch ein Dieb. Er weiß um die Schrecklichkeit seines Verbrechens, und als er Elsa entdeckt, signalisiert er ihr mit einer Geste des Halsabschneidens, was sie erwartet, wenn sie ihn verrät. Dann rast er auf seinem Motorschlitten davon.
Solche Taten sind keine Seltenheit im ausgedehnten Land der Sámi. Die Motive der Verbrecher sind unterschiedlich. Manche verkaufen das Fleisch unter der Hand, andere fühlen sich von den Herden oder den Hirten gestört, die Schlimmsten aber toben ihre reine Lust am Töten aus. Was sonst bringt jemanden dazu, einer lebenden Rentierkuh die Gebärmutter herauszuschneiden und das Kalb totzuschlagen?
Eine wesentliche Rolle spielen soziale Ächtung und Rassismus. Die Sámi sind eines der ältesten Urvölker der Erde und das letzte indigene Volk Europas. Ihr Siedlungsgebiet erstreckt sich über Norwegen, Schweden, Finnland bis zur russischen Kola-Halbinsel. Einst waren sie Nomaden, die den Rentieren zu ihren Weidegründen folgten, später wurden sie sesshaft und züchteten die Tiere. Von den heute lebenden etwa siebzigtausend Menschen führen die meisten ein modernes Leben, Schneemobile und Motorräder erleichtern die harte Arbeit, sie wohnen in festen Behausungen, halten aber an ihrer alten Kultur, der Sprache und den Traditionen fest. Nur noch jeder Zehnte ist Rentierzüchter oder Hirte.
Auf ihre nicht-samischen Mitbürger wirken die unverständlichen Sprachvarianten, die Trachten, Riten, Gesänge, Trommeln, Tänze bis zur Trance, die Mythen, die Schamanen, der Geisterglauben, die animistische Religion seit jeher seltsam und schwer verständlich. Gesellschaftliche Ablehnung und Ausgrenzung waren die Folge und steigerten sich bis zu regelrechter Unterdrückung, ähnlich wie bei Minoritäten anderswo in der Welt. Die Kinder mussten die sogenannten »Nomadenschulen« besuchen, wo ihnen ihre Kultur ausgetrieben werden sollte, der auf das Notwendigste reduzierte Lehrstoff aber auch keine Basis für Chancengleichheit vermittelte.
Zwar sind die verschiedenen Sprachen und Religionen inzwischen erlaubt, aber die Stigmatisierung des Hirtenvolks als minderwertig ist bis heute nicht überwunden. Ressentiments und Hass bekommen sie überall zu spüren. Die Behörden weisen ihnen Häuser am Ortsrand zu, wo sie unter sich bleiben sollen, ohne zu stören, und haben keine Skrupel, ihnen die Straßenbeleuchtung abzudrehen, um Geld für ›Wichtigeres‹ zu sparen. Wirtschaftliche Not ist das tägliche Brot der Sámi. Vielen von ihnen fehlt es an Selbstbewusstsein, mehr als üblich fallen dem Alkoholismus zum Opfer, und die Selbstmordrate ist doppelt so hoch wie im übrigen Schweden. Die Politik bleibt angesichts dieser Formen von Rassismus vergleichsweise untätig.
In diese Parallelwelt geleitet uns die schwedische Journalistin und Autorin Ann-Helén Laestadius mit ihrem ergreifenden Roman »Stöld« (»Diebstahl«) von 2021, den Maike Barth und Dagmar Mißfeldt ins Deutsche übersetzt haben. Der für die deutsche Ausgabe gewählte Titel evoziert allerdings romantischere Erwartungen als der ungeschminkt realistische Inhalt des Buches erfüllt.
Was kann Elsa nun tun? Die Drohgeste des Tierquälers hat sie dermaßen in Angst versetzt, dass sie nicht einmal ihre Eltern informiert. Aber ihre tiefe Trauer und unstillbare Wut bewahrt sie in sich. Eines Tages, weiß sie, wird sie ihn umbringen, und Mattias, ihr kleiner Bruder, würde ihr helfen. Das abgeschnittene Ohr, das der Mann achtlos in den Schnee geworfen hatte, hütet sie in einem sicheren Versteck.
Natürlich kann Elsa nicht verbergen, dass etwas Furchtbares geschehen ist. Sie soll eine Aussage bei der Polizei machen. Aber die wird sich, wie üblich, nicht für den Fall interessieren. Nach schwedischem Recht ist die Tötung eines Tieres aus Privatbesitz einfacher Diebstahl (daher der Originaltitel). Eine polizeiliche Ermittlung wäre also nur unnützer Aufwand, und niemand ist willens, die unzähligen Anzeigen dieser Art zu bearbeiten.
So geht das widerwärtige Rentierschlachten weiter und schmälert die Lebensgrundlage vieler Familien, ohne dass sie sich der Bedrohung wirksam entgegenstellen können.
Zehn Jahre später, im Spätherbst 2018, ist Elsa neunzehn Jahre alt. Den Mörder ihres Rentierkälbchens hat sie nie aus den Augen verloren. Jetzt ist sie erwachsen geworden und entschlossener denn je, Kraft und Mittel aufzubringen, ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Doch in der patriarchalisch dominierten Sámi-Gesellschaft liegen unüberwindliche Hindernisse im Weg einer tatkräftigen jungen Frau wie Elsa. Ihr geschickter Umgang mit den Rentieren wird von den Männern eher als Konkurrenz empfunden und als Fehlentwicklung kritisiert. Und warum muss sie für ihr Anliegen ausgerechnet einen Journalisten kontaktieren? Die Sámi können ihre Probleme schließlich selber lösen und wollen keine Aufmerksamkeit erregen.
In der Zwischenzeit ist sich Elsa noch anderer Probleme bewusst geworden, die sie und ihren Lebensraum nördlich des Polarkreises bedrohen, wo im Sommer fünfzig Tage lang ununterbrochen die Sonne scheint und im Winter zwanzig Tage lang Polarnacht herrscht. Ihre Heimat Kiruna, Schwedens nördlichste Stadt, lebt von den Eisenerzvorkommen unter ihr. Muss der Bergbau wirklich immer noch subventioniert werden? Jeder kann die Auswirkungen des Klimawandels sehen. Die Weidegründe schrumpfen, weswegen die Rentiere zusätzlich gefüttert werden müssen. Und immer dreister dringen Touristen in die Einsamkeit vor und fotografieren die Sámi in ihren Trachten, ohne einen Hauch von Respekt zu zeigen und wenigstens um Erlaubnis zu bitten.
Die Autorin weiß, wovon sie erzählt. Sie wurde selbst in Kiruna geboren (1971), als Tochter eines samischen Vaters und einer tornedalfinnischen Mutter. Ihre einzige Muttersprache war Schwedisch, denn der samische Teil ihrer kulturellen Herkunft war Opfer der Umerziehungspolitik. 1990 begann Ann-Helén Laestadius als Journalistin zu arbeiten und widmete sich vor allem der sprachlichen und kulturellen Diversität ihres Herkunftslandes. Dann verfasste sie Kinder- und Jugendbücher. »Stöld« ist ihr Debütroman für Erwachsene. Es ist ein komplexer Roman, der geschickt einen Kriminal-Plot nutzt, um uns auf spannende und unterhaltsame Weise die ferne und fremde Kultur und Lebensweise der Sámi näher zu bringen. Dazu gehört auch ihre Sprache, von der einige Ausdrücke im Text vorkommen. Sie werden wie die schwedischen und finnischen Vokabeln in einem Glossar übersetzt. Was die abenteuerlich anmutenden Wörter (wie »vihttanuppelohkái« und »njealljeloginjeallje«) neben den Kapitelnummern bedeuten, muss und kann man dagegen selber erschließen.