Rezension zu »Das Leuchten der Rentiere« von Ann-Helén Laestadius

Das Leuchten der Rentiere

von


Im weiten Siedlungsgebiet der Sámi nehmen sinnlose, grausame Rentiertötungen überhand. Obwohl die Verbrechen die Lebensgrundlage der ohnehin benachteiligten ethnischen Minderheit gefährden, werden sie von Öffentlichkeit und Behörden nicht ernst genommen. Eine selbst betroffene junge Frau ergreift die Initiative – und erkämpft sich auch ihren Platz im Leben.
Belletristik · Hoffmann und Campe · · 448 S. · ISBN 9783455012941
Sprache: de · Herkunft: se

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Ein Volk wird übersehen

Rezension vom 21.05.2023 · 2 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Die neunjährige Elsa ist stolz und glücklich. Ihr Vater hat ihr ein junges Rentier­kalb geschenkt. Mit seinem markanten weißen Fleck auf der Stirn ist es ein besonders hübsches. Und weil Elsa Verant­wor­tung dafür tragen darf, ist sie jetzt groß. Aber ihr Glück endet jäh. Als sie eines Abends auf ihren Skiern zum Rentier­gehege fährt, um die Fütterung vorzu­berei­ten, findet sie das Tier grausam getötet am Zaun. Daneben sieht sie den Mann, der die herzlose Tat mit seinem Messer begangen hat. Sie erkennt ihn – er wohnt nicht weit weg. Indem er jetzt das Ohr ihres Kälbchens abtrennt, entfernt er die Markie­rung, die sie als Eigen­tümerin nachweist. Damit ist er nicht nur ein Mörder, sondern auch ein Dieb. Er weiß um die Schreck­lichkeit seines Verbre­chens, und als er Elsa entdeckt, signali­siert er ihr mit einer Geste des Hals­abschnei­dens, was sie erwartet, wenn sie ihn verrät. Dann rast er auf seinem Motor­schlitten davon.

Solche Taten sind keine Selten­heit im ausge­dehn­ten Land der Sámi. Die Motive der Ver­brecher sind unter­schied­lich. Manche verkaufen das Fleisch unter der Hand, andere fühlen sich von den Herden oder den Hirten gestört, die Schlimm­sten aber toben ihre reine Lust am Töten aus. Was sonst bringt jemanden dazu, einer lebenden Rentier­kuh die Gebär­mutter heraus­zuschnei­den und das Kalb totzu­schlagen?

Eine wesentliche Rolle spielen soziale Ächtung und Rassis­mus. Die Sámi sind eines der ältesten Urvölker der Erde und das letzte indigene Volk Europas. Ihr Sied­lungs­gebiet erstreckt sich über Norwegen, Schweden, Finnland bis zur russi­schen Kola-Halbinsel. Einst waren sie Nomaden, die den Rentieren zu ihren Weide­gründen folgten, später wurden sie sesshaft und züchteten die Tiere. Von den heute lebenden etwa siebzig­tausend Menschen führen die meisten ein modernes Leben, Schnee­mobile und Motor­räder erleich­tern die harte Arbeit, sie wohnen in festen Behau­sungen, halten aber an ihrer alten Kultur, der Sprache und den Tradi­tionen fest. Nur noch jeder Zehnte ist Rentier­züchter oder Hirte.

Auf ihre nicht-samischen Mitbürger wirken die unver­ständ­lichen Sprach­varianten, die Trachten, Riten, Gesänge, Trommeln, Tänze bis zur Trance, die Mythen, die Schamanen, der Geister­glauben, die animis­tische Religion seit jeher seltsam und schwer verständ­lich. Gesell­schaft­liche Ableh­nung und Ausgren­zung waren die Folge und steiger­ten sich bis zu regel­rechter Unter­drückung, ähnlich wie bei Minori­täten anderswo in der Welt. Die Kinder mussten die soge­nann­ten »Nomaden­schulen« besuchen, wo ihnen ihre Kultur ausge­trieben werden sollte, der auf das Not­wendig­ste redu­zierte Lehrstoff aber auch keine Basis für Chancen­gleich­heit vermit­telte.

Zwar sind die verschiedenen Sprachen und Religionen inzwi­schen erlaubt, aber die Stig­matisie­rung des Hirten­volks als minder­wertig ist bis heute nicht über­wunden. Ressen­timents und Hass bekommen sie überall zu spüren. Die Behörden weisen ihnen Häuser am Ortsrand zu, wo sie unter sich bleiben sollen, ohne zu stören, und haben keine Skrupel, ihnen die Straßen­beleuch­tung abzu­drehen, um Geld für ›Wichti­geres‹ zu sparen. Wirt­schaft­liche Not ist das tägliche Brot der Sámi. Vielen von ihnen fehlt es an Selbst­bewusst­sein, mehr als üblich fallen dem Alkoho­lismus zum Opfer, und die Selbst­mord­rate ist doppelt so hoch wie im übrigen Schweden. Die Politik bleibt ange­sichts dieser Formen von Rassis­mus vergleichs­weise untätig.

In diese Parallelwelt geleitet uns die schwedische Jour­nalis­tin und Autorin Ann-Helén Laesta­dius mit ihrem ergrei­fenden Roman »Stöld« (»Diebstahl«) von 2021, den Maike Barth und Dagmar Mißfeldt ins Deutsche übersetzt haben. Der für die deutsche Ausgabe gewählte Titel evoziert aller­dings romanti­schere Erwar­tungen als der unge­schminkt realist­ische Inhalt des Buches erfüllt.

Was kann Elsa nun tun? Die Drohgeste des Tier­quälers hat sie dermaßen in Angst versetzt, dass sie nicht einmal ihre Eltern infor­miert. Aber ihre tiefe Trauer und unstill­bare Wut bewahrt sie in sich. Eines Tages, weiß sie, wird sie ihn umbringen, und Mattias, ihr kleiner Bruder, würde ihr helfen. Das abge­schnit­tene Ohr, das der Mann achtlos in den Schnee geworfen hatte, hütet sie in einem sicheren Versteck.

Natürlich kann Elsa nicht verbergen, dass etwas Furcht­bares geschehen ist. Sie soll eine Aussage bei der Polizei machen. Aber die wird sich, wie üblich, nicht für den Fall interes­sieren. Nach schwedi­schem Recht ist die Tötung eines Tieres aus Privat­besitz einfacher Diebstahl (daher der Original­titel). Eine polizei­liche Ermitt­lung wäre also nur unnützer Aufwand, und niemand ist willens, die unzäh­ligen Anzeigen dieser Art zu bear­beiten.

So geht das widerwärtige Rentier­schlach­ten weiter und schmälert die Lebens­grund­lage vieler Familien, ohne dass sie sich der Bedrohung wirksam ent­gegen­stellen können.

Zehn Jahre später, im Spätherbst 2018, ist Elsa neun­zehn Jahre alt. Den Mörder ihres Rentier­kälb­chens hat sie nie aus den Augen verloren. Jetzt ist sie erwachsen geworden und ent­schlos­sener denn je, Kraft und Mittel aufzu­bringen, ihn zur Rechen­schaft zu ziehen. Doch in der patriar­chalisch domi­nierten Sámi-Gesell­schaft liegen unüber­wind­liche Hinder­nisse im Weg einer tatkräf­tigen jungen Frau wie Elsa. Ihr ge­schick­ter Umgang mit den Rentieren wird von den Männern eher als Konkur­renz empfunden und als Fehl­ent­wick­lung kriti­siert. Und warum muss sie für ihr Anliegen ausge­rechnet einen Journa­listen kontak­tieren? Die Sámi können ihre Probleme schließ­lich selber lösen und wollen keine Auf­merk­sam­keit erregen.

In der Zwischenzeit ist sich Elsa noch anderer Probleme bewusst geworden, die sie und ihren Lebens­raum nördlich des Polar­kreises bedrohen, wo im Sommer fünfzig Tage lang ununter­brochen die Sonne scheint und im Winter zwanzig Tage lang Polar­nacht herrscht. Ihre Heimat Kiruna, Schwedens nörd­lichste Stadt, lebt von den Eisen­erz­vor­kommen unter ihr. Muss der Bergbau wirklich immer noch subven­tioniert werden? Jeder kann die Aus­wirkun­gen des Klima­wandels sehen. Die Weide­gründe schrump­fen, weswegen die Rentiere zusätz­lich gefüttert werden müssen. Und immer dreister dringen Touristen in die Einsam­keit vor und foto­grafie­ren die Sámi in ihren Trachten, ohne einen Hauch von Respekt zu zeigen und wenigs­tens um Erlaubnis zu bitten.

Die Autorin weiß, wovon sie erzählt. Sie wurde selbst in Kiruna geboren (1971), als Tochter eines samischen Vaters und einer torne­dal­finni­schen Mutter. Ihre einzige Mutter­sprache war Schwe­disch, denn der samische Teil ihrer kultu­rellen Herkunft war Opfer der Umer­zie­hungs­politik. 1990 begann Ann-Helén Laesta­dius als Journa­listin zu arbeiten und widmete sich vor allem der sprach­lichen und kultu­rellen Diver­sität ihres Her­kunfts­lan­des. Dann verfasste sie Kinder- und Jugend­bücher. »Stöld« ist ihr Debüt­roman für Erwach­sene. Es ist ein komplexer Roman, der geschickt einen Kriminal-Plot nutzt, um uns auf spannende und unter­halt­same Weise die ferne und fremde Kultur und Lebens­weise der Sámi näher zu bringen. Dazu gehört auch ihre Sprache, von der einige Ausdrücke im Text vorkommen. Sie werden wie die schwedi­schen und finni­schen Vokabeln in einem Glossar übersetzt. Was die aben­teuer­lich anmu­tenden Wörter (wie »viht­tanup­peloh­kái« und »njeall­jelogin­jeallje«) neben den Kapitel­nummern bedeuten, muss und kann man dagegen selber erschlie­ßen.


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