Geheimnisse der Vergangenheit
Lilli Sternberg und ihre Tochter Maja haben seit zehn Jahre keinen Kontakt mehr miteinander. Ihre unterschiedlichen Lebensauffassungen hatten zum Zerwürfnis geführt.
Eines Tages erhält Maja völlig unerwartet einen Anruf ihrer Mutter aus Wien. Lilli Sternberg kann sich am Telefon nicht erklären, doch sei die Angelegenheit so dringlich, dass Maja nach Wien kommen möge. Widerwillig leistet die Tochter Folge.
Als sie in Wien ankommt, ist ihre Mutter tot. Sie habe sich umgebracht, berichtet die Polizei. Warum nur? Selbstmord passt so gar nicht in Majas Charakterbild der Mutter.
Nun muss sie die Beerdigung vorbereiten. Sie benötigt Mutters Geburtsurkunde. In Sütterlin geschrieben, ist sie kaum zu entziffern. Geburtsort: Hoheforst (Mutter hatte immer von Bremen gesprochen) , Datum: Mai 1944, Kindsmutter: Charlotte, Kindsvater: kein Vermerk. Maja war mit dem Bewusstsein aufgewachsen, der Großvater sei im Krieg vermisst gemeldet. Außerdem entdeckt sie ein Foto. Es zeigt Oma Charlotte mit einem rundgesichtigen, dunkelhaarigen Baby auf dem Arm – sicher ihre Mutter Lilli. Auf der Rückseite steht mit Großmutters Schriftzug: "Wir beide in Hoheforst, März 1944". Aber in der Geburtsurkunde ist doch Mai 1944 eingetragen ...
Sie kann nicht fassen, was sie vor Augen hat. Niemand, nicht einmal ihre geliebte Großmutter, hat ihr je davon erzählt. Wer kann ihr alle Fragen beantworten, diese Geheimnisse erklären? Jetzt ist sie völlig auf sich allein gestellt und macht sich auf die Spurensuche.
Der Roman ist aus zwei Perspektiven erzählt, die auch durch ihr Schriftbild voneinander abgesetzt sind. Die eine Sicht liefert das Manuskript der Großmutter mit deren Lebensgeschichte. Noch bevor Maja, nach intensiver Detektivarbeit, die vollständige Fassung in Händen hält, ist ihr der Leser voraus. Von Charlottes heimlicher Liebe und Schwangerschaft darf niemand wissen. Sie flieht nach Hoheforst, in eines der Heime der Institution Lebensborn. Als Kindsvater gibt sie den im Krieg gefallenen Ehemann ihrer Schwester an. Mit diesem Ariernachweis kann sie ihr Kind bekommen. Die Geheimhaltung ist garantiert, und nach der Geburt kann sie mit dem Kind bleiben und als Angestellte der Nazis arbeiten. Doch was Großmutter in diesem Lebensborn-Heim tut, wird sie ihr Leben lang verfolgen: Sie wird eine entsetzliche Schuld auf sich laden.
Die zweite Perspektive, die sich im Wechsel mit der ersten durch den Roman zieht, ist Majas Beschreibung ihrer Spurensuche. Dabei hilft ihr eine Nachbarin und Vertraute ihrer Mutter. Sie kennt u.a. Lillis Anwalt, ihren Arzt und ihre Bankberaterin. Doch zunächst fährt sie an den Ort, wo ihre Großmutter mit ihrem Baby während der Kriegsjahre gelebt hatte. Sie will noch etwas davon spüren und sehen. War Charlotte eine überzeugte Unterstützerin des NS-Regimes? Sie trifft Roman Sartorius, Sohn des im Heim tätigen Arztes Heinrich Sartorius. Dr. Klaus Reuther, Rechtsanwalt aus Frankfurt, ist darauf spezialisiert, Lebensborn-Kindern bei der Suche nach ihrer wahren Identität zu helfen. Dr. Prohacek hat Mutter während ihres Krebsleidens unterstützt. Maja wird das Gefühl nicht los, dass sie alle nur Bruchstücke ihres Wissens an Maja weitergeben. Je näher Maja der Wahrheit kommt, desto mehr gerät sie selber in Gefahr. Jemand verfolgt sie. Kaum hat sie sich jemandem anvertraut, schon bereut sie es wieder. Ihr nebulöses Wissen klärt sich von Seite zu Seite, doch dabei tanzt der Leser mit Maja auf einem gefährlichen Drahtseil, von dem sie noch kurz vorm Ziel abstürzen kann ...
Anja Jonuleit hat einen von der ersten bis zur allerletzten Seite faszinierenden, unglaublich spannenden Roman geschrieben. Völlig unerwartete Handlungen halten den Leser in Atem. Jonuleits Sprachstil ist eingängig, die Seiten sind viel zu schnell gelesen ...
Interessant sind die Einblicke in den Lebensborn-Alltag. Zwar herrschten da strenge Regeln, aber die Frauen fühlten sich wie im Schlaraffenland, denn Verpflegung und Unterbringung waren bestens. Sie litten keine Not.
Sehr gut gefallen hat mir die Beschreibung der emotionalen Beziehung zwischen Mutter Lilli und Tochter Maja. Mutters Gefühlskälte hatte Maja immer wieder verletzt; infolgedessen hatte sie sich abgeschottet. Nichts sollte sie mehr betroffen machen. Nun erfährt sie vieles über die Vergangenheit und das Leben ihrer Mutter, welches sie nicht miterlebt hat. Indem sie erkennt, dass deren Vergangenheit anders verlief, als sie geglaubt hatte, gerät Majas Gefühlswelt aus den Fugen; Trauer, Schuldgefühle und den Tod ihrer Mutter kann sie kaum verarbeiten. Die Autorin beweist in diesen Psychogrammen ihre sprachliche Feinfühligkeit.
Eine absolut empfehlenswerte Lektüre!
P.S.: "Herbstvergessene" (oder "Herbstzeitlose") ist eine krautige Pflanze. Ihr Gift wird in der Medizin und Pflanzenzucht verwendet.