Das letzte Bild
von Anja Jonuleit
Zwei Frauen forschen nach der Identität einer Toten und ihrer Beziehung zu ihr. Um die Geheimnisse der Isdal-Leiche, die bis heute nicht vollständig aufgeklärt werden konnten, erzählt Anja Jonuleit eine komplexe, faszinierende Geschichte, die auf den bekannten Fakten aufbaut und sie um eine plausible fiktionale Lösung bereichert.
Geheimnisse in Norwegen
Ende November 1970 fanden Wanderer im norwegischen Isdal (»Eistal«) eine halb verbrannte Frauenleiche. Erst 2016 konnten einige Umstände des Falles erhellt werden, als die Polizei den cold case mit modernsten Methoden wie DNA- und Zahnanalysen neu aufrollte. Die Frau war zum Zeitpunkt ihres Todes um die vierzig Jahre alt und stammte wohl aus Deutschland. Zwei Koffer in der Gepäckaufbewahrungsstelle des Bahnhofs Bergen konnten ihr zugeordnet werden und belegten, dass sie mit gefälschten Pässen und diversen Namen durch ganz Europa gereist war. Alles, was Rückverfolgungen ermöglicht hätte, war von den Gegenständen am Fundort und in den Koffern sorgfältig entfernt worden. Die Spekulationen blühten international auf: War die Tote eine Spionin? Hat sie sich selbst getötet, oder wurde sie ermordet? Keine dieser Fragen konnte bis heute beantwortet noch die wahre Identität der Frau geklärt werden.
Rein zufällig stieß die deutsche Autorin Anja Jonuleit auf einen Podcast der BBC über diesen mysteriösen Kriminalfall. Die Hinweise auf eine Verbindung nach Deutschland ließen ihr keine Ruhe, und die faszinierende Story bot sich mit all ihren Ungereimtheiten an, zu einem spannenden teils historischen, teils fiktionalen Plot verarbeitet zu werden. Dazu bedurfte es freilich zunächst intensiver Forschungsarbeiten (im Nachwort ausführlichst beschrieben).
Als erzählerische Zwischeninstanzen führt Jonuleit mit Marguerite und der Schriftstellerin Eva Berghoff zwei deutsche Frauen ein, die ihrerseits Recherchen anstellen, aber auf verschiedenen Zeitebenen und aus unterschiedlichen Motiven.
Marguerite wächst mit Mutter und Schwester auf, ehe sie als Sechsjährige beide in den Wirren des Endstadiums des Weltkriegs für immer verliert. Der Gedanke an die beiden wird sie jedoch niemals loslassen. Nach einer trostlosen Kindheit und Jugend im Waisenhaus und bei Pflegeeltern begibt sich die junge Frau nach Kriegsende auf die Suche nach ihren engsten Verwandten, die vielleicht überlebt haben. Sie erfährt, dass ihre Mutter als Ärztin für die Nazis gearbeitet hatte, und zwar hauptsächlich in den norwegischen Lebensborn-Heimen. Sie reist zu den mittlerweile geschlossenen Anstalten und verheimlicht dort, wer sie ist, um Auskünfte von Zeugen und Zugang zu Text- und Bilddokumenten zu erhalten. Ein Foto – »Das letzte Bild« – wird ihr zum Verhängnis.
Eva Berghoff springt im Januar 2018 eine reißerische »Bild«-Schlagzeile ins Auge: »War die unbekannte Tote eine Deutsche?« Der Artikel berichtet von den neuen Erkenntnissen zum Isdal-Fall und präsentiert dazu ein Phantombild, wie die Frau zuletzt ausgesehen haben könnte. Eva ist elektrisiert: Das Porträt hat verblüffende Ähnlichkeit mit ihrer Mutter, ja sogar mit ihr selbst. Ihre Mutter Ingrid wurde 1938 geboren und gehört zu der Generation, die ihre schreckliche Vergangenheit gerne ruhen lassen will. Da hat es wenig Erfolg, Fragen zu stellen. Eva muss sich und ihre Gedanken der Mutter gegenüber zurücknehmen und sich bemühen, selber etwas über das Leben der Unbekannten aus Norwegen herauszufinden.
Dabei begegnet Eva dem norwegischen Historiker Laurin Abrahamsen, Protagonist eines dritten Erzählstrangs. Er doziert an der Universität Oslo darüber, wie sich der politische Blick auf Norwegens jüngere Vergangenheit in den letzten Jahren gewandelt hat. Zunächst wurde nach Kriegsende das Feindbild der deutschen Besatzer aufrechterhalten. Damit korrespondierte die Verehrung der eigenen Opfer und insbesondere der Widerstandskämpfer, die, indem sie tapfer den Kampf gegen den verhassten Gegner aufnahmen, ihr Leben aufs Spiel setzten.
Professor Abrahamsen will die Perspektive aber um eine Gruppe erweitern, der bitteres Unrecht angetan wurde. Etwa zehn Prozent der weiblichen Bevölkerung Norwegens hatten sich mit deutschen Wehrmachtsangehörigen eingelassen. Nach dem Krieg wurden sie pauschal verurteilt und gesellschaftlich ausgegrenzt. Man beschuldigte sie der Kollaboration mit dem Feind, beschimpfte sie als »Deutschenflittchen«, verachtete sie als Huren, viele wurden misshandelt, manchen entzog man die norwegische Staatsbürgerschaft oder internierte sie auf einer kleinen Insel. Ihre Söhne und Töchter, zumeist in Heimen unehelich geborene tyskerbarna (»Deutschenkinder«), waren in den Augen der Öffentlichkeit mit einem Makel behaftet.
Siebzig Jahre lang wurde über all diese Dinge geschwiegen. Erst im Jahr 2000 entschuldigte sich die norwegische Regierung bei den Kriegskindern, im Jahr 2018 folgte die offizielle Entschuldigung der norwegischen Ministerpräsidentin bei den Frauen, die Beziehungen mit Deutschen eingegangen waren. Doch die überfälligen Gesten konnten erlittenes Unrecht und menschliches Leid kaum lindern.
Sehr geschickt vermag die Autorin die vielen zunächst rätselhaften Puzzleteile und verschiedenen Perspektiven in alternierenden Erzählsträngen auf zwei Zeitschienen (Marguerites in der Vergangenheit, Evas in der Gegenwart) zu einem stimmigen Gesamtwerk zusammenzufügen. So erfahren wir durch Marguerite die historisch belegten Ereignisse und haben dadurch gewissermaßen einen Wissensvorsprung, bevor wir Evas Erzählung lesen, die als Suche nach der persönlichen verschwiegenen Familiengeschichte stärker fiktional geprägt ist. Dass Evas und Marguerites Recherchen einige Dopplungen zur Folge haben, ist eher hilfreich als störend, denn sie erleichtern den Überblick über die komplexen Vorgänge.
Anja Jonuleit ist mit ihrem neuen Roman ein Kunststück gelungen. Er präsentiert historische Ereignisse und anspruchsvolle Inhalte in einer komplexen Form, ist aber dennoch flüssig und unterhaltsam zu lesen. Die Autorin verbindet Zeitgeschichte mit einem authentischen, noch immer nicht aufgeklärten Kriminalfall zu einer emotional packenden, dramatischen Spannungsgeschichte, die bis zur letzten Zeile fesselt.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Herbst 2021 aufgenommen.