Rezension zu »Der wahrhaftige Volkskontrolleur« von Andrej Kurkow

Der wahrhaftige Volkskontrolleur

von


Belletristik · Haymon · · Gebunden · 430 S. · ISBN 9783852186795
Sprache: de · Herkunft: ru

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Ja, er lebt noch!

Rezension vom 04.09.2011 · 4 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Stellt euch vor: Tief unter dem Kreml auf einer grünen Wiese sitzt er – L., der Kremlträumer – und er lebt noch. Anlässlich seines Geburtstags wurde der Künstler Mark geladen, um politische Gedichte vorzutragen; genauer gesagt: Die rezitiert Kusma, sein sprechender Papagei. Aber das dürft ihr nicht weitererzählen, denn schon Mark hat gegen die Verschwiegenheitserklärung verstoßen, die er unterschreiben musste. Bloß weil er den Angeber von stinkreichem Lederfabrikanten beeindrucken wollte, den er im Sanatorium am Schwarzen Meer kennengelernt hatte. Der nämlich meinte damit protzen zu können, dass er einstmals in Gorkij Lenin ganz aus der Nähe gesehen habe ...

Pawel ist einer von ganz wenigen Russen, dem die Ehre zuteil wird, als wahrer Volkskontrolleur durchs Land zu reisen, um das Leben der Menschen und die Fertigungsprozesse der Fabriken zu inspizieren. Ein ganz einfacher Mann vom Lande, ehrlich bis zur Dummheit, hatte Pawel nie in seinem Leben ein Auto, eine Stadt, geschweige denn den Kreml gesehen. Hier wird er nun von Genosse Kalinin erwartet. Bei einer Tasse Tee überreicht der ihm seine Ernennungsurkunde und gibt ihm den Leitsatz für seine Arbeit mit auf den Weg: "Das Wichtigste ist nicht, zu verstehen, sondern zu handeln. Verstanden?" (S. 56)

Ein privates Flugzeug bringt Pawel in die Einöde: Jakutien, ewiges Eis, unberührte Schneelandschaft – drei Hütten bilden hier schon eine Stadt. Am Flugplatz wird er vom Komsomolzen Zybulnik mit einem Propellerschlitten erwartet, um ihn in die Stadt (!) zu bringen, wo er endlich und mit Herzenslust seinen Dienst am Vaterland würde beginnen können. Bei ihrer Fahrt gelangen sie an einen freien Platz, wo ein Holzpfahl aus dem Frostboden ragt, davor ein schwarzer Aschefleck: eine alte Opferstätte der Eskimos. Mit der Leninisierung des Polargebiets hat man den einzig verbliebenen Pfahl nun mit einer Iljitsch-Büste versehen. Dreißig weitere Köpfe sind schon bestellt, sechsundachtzig werden während Pawels Dienstzeit noch dazu kommen ...

Doch noch jemand anderes ist da in Russland gelandet, und wir begleiten ihn in einem parallelen Erzählstrang: Es ist ein ehrgeiziger und idealistischer Engel, der sich aus dem Paradies auf den Weg hernieder gemacht hat, um im Reich der Sowjetunion wenigstens einen einzigen Gerechten zu finden. Keiner seiner Brüder und Schwestern im Himmelreich glaubt, dass ihm das gelingen könne. Kaum auf dem Erdboden angekommen, begegnet ihm schon ein Deserteur, und gerne tauscht der Engel sein weißes Gewand gegen das des abtrünnigen Rotarmisten. Als ihn bald darauf Späher in seiner abgerissenen Militäruniform aufgreifen, bringt ihm sein Einwand, er sei ein Engel, kein Deserteur, natürlich nur Spott ein: Einen Dreckskerl wie ihn könne man direkt zum Mond befördern, und schon drücken die Reiter ab. Die Kugel aber weicht dem Engel aus, fliegt und fliegt – bis sie Tage später den Ordensträger Podbelskij auf dem Roten Platz hinterhältig tötet. Ein glatter Durchschuss exakt auf den Führerkopf des Leninordens ...

Wie nicht anders zu erwarten, werden noch viele Skeptiker den behaupteten Engelsstatus belächeln, aber nach und nach schließen sich immer mehr Menschen dem Himmelsboten an. Gemeinsam folgen sie dem Stern Archipka, sieben Nächte lang, dann erreichen sie das Neue Gelobte Land, wo sie sich an einem Hügel niederlassen. Gut geplant, sorgfältig geordnet und durch Versammlungsbeschlüsse bestätigt, bauen sie eine Kommune auf, in der sie nach Prinzipien der Gerechtigkeit und in Liebe miteinander leben wollen. Eine Seele aber gibt es nicht, das haben sie einstimmig beschlossen. Hier scheitert wohl des Engels Mission ...

Die Stärken von Andrej Kurkows Roman – manchmal leicht, manchmal ernsthaft im Ton – sind die reichhaltigen, sehr unterhaltsamen Geschichten und eine äußerst individuelle Art des Humors: skurril, absurd, voll spinniger Phantasien, oft erschreckend grausam und abstoßend komisch. Beispiel: Pawel und sein Schlittenfahrer finden in der Eiswüste ein verendetes Rentier. Als besonderes Mitbringsel für den Russen Kriwizkij schneiden sie ihm ein langes tiefgefrorenes Organ ab. Kriwizkij wird es zu Sülze verarbeiten und seinem Gast Pawel zum Essen vorlegen ...

Der gesamte Werdegang Pawels – beginnend mit seiner Ernennung, der Dienstwohnung mit dienstlicher Ehefrau, dem Einsatz in einem industrie- und menschenleeren Raum und der Aufdeckung mehrerer Verbrechen – ist an Absurdität kaum zu überbieten. Werfen wir zum Schluss noch einen Blick in den Folterkeller des Kremls, wo Pawel zu den Ereignissen in Jakutien verhört wird: Hier lernen wir eine gute Methode kennen, wie man sich an Dinge erinnert, die nützlich und notwendig sind. Und ein echter Kommunist fühlt keinen Schmerz, wie ihm sein Folterknecht Kalinin sogar am eigenen Leibe und umso beweiskräftiger vorführt!

P.S.: Andrej Kurkow, 1961 in St. Petersburg geboren, lebt in Kiew. Er studierte Fremdsprachen, beherrscht elf davon, war Zeitungsredakteur und während des Militärdienstes Gefängniswärter. Später arbeitete er als Kameramann und schrieb zahlreiche Drehbücher. Seit 1996 ist er freier Schriftsteller. Zuletzt erschien "Der Milchmann in der Nacht" (2009).


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