Supergirl mit Handicap
Jenny Aaron ist eine Ausnahmefrau in einer Männerdomäne. In ihrer Spezialeinheit ist sie die einzige Frau unter vierzig Männern. Die Abteilung ohne Namen hat ihre Zentrale in Berlin und ist dem Innenministerium unterstellt, damit, wenn es zur Sache geht, die Dienstwege kurz sind.
Die Voraussetzungen für ihre steile Karriere sind Jenny Aaron förmlich in die Wiege gelegt worden. Ihr Vater gehörte zur legendären GSG-9-Einsatztruppe und war in Mogadischu an vorderster Front dabei, als die von Terroristen entführte Lufthansa-Maschine »Landshut« erstürmt wurde. Als seine Tochter zwölf Jahre alt ist, lehrt er sie in einem Steinbruch »alles übers Schießen, was ein Polizist seiner Tochter weitergeben kann«. Zu ihrem achtzehnten Geburtstag schenkt er ihr eine kleine, leichte Pistole – Jennys »Tausendschönchen«.
Nach dem Studium (Abschluss als Jahrgangsbeste) bewirbt sich Jenny Aaron beim Berliner LKA und bekommt die Stelle. Nach einem Jahr (da ist sie zweiundzwanzig) muss sie zum ersten Mal einen tödlichen Schuss abfeuern (und es ist nicht ihr letzter). Ihre Einsatzorte sind Warschau, Helsinki, Neapel, Moskau, ihre Gegenspieler die Größen der Unterwelt, wie etwa der Capo des Mazzarella-Clans in Napoli oder der Chef einer russischen Mafiaorganisation, der im kriminellen Rohstoffhandel seine ersten Millionen einsammelt. Als er das UN-Hilfsprogramm »Oil for Food« ausnutzt, um irakisches Öl an den internationalen Sanktionen vorbei und zu Dumpingpreisen auf den US-Markt zu schleusen, eckt er allerdings beim FBI an, denn auch Saddam Hussein, Uncle Sams Staatsfeind Nr. 1, ist mit im Spiel.
Das LKA entsendet »Aaron« (keiner nennt sie anders) nach Moskau. Dort erledigt sie als erstes in einem todesmutigen Einsatz den Auftragskiller, der sie schon erwartet hat, und glänzt danach, beobachtet vom FBI und dem deutschen Geheimdienst, in der hochbrisanten Operation, die zur Festnahme des international gesuchten russischen Magnaten führt. Die »Abteilung« wird auf die Fünfundzwanzigjährige aufmerksam und nimmt sie in den Kreis der Elite-Kämpfer auf.
Auf dem Gipfel ihrer bisherigen Karriere ereilt Aaron ein herber Schlag. Sie soll mit einem Kollegen, Niko Kvist, in Barcelona ein Gemälde zurückkaufen, das aus der Berliner Nationalgalerie gestohlen worden war. Die Übergabe – drei Millionen Pfund Sterling gegen einen Chagall – endet in einer Katastrophe. Niko und Aaron werden angeschossen, Aaron kann flüchten, doch ihr Verfolger holt sie ein und drückt ab. »Etwas explodiert in Aarons Kopf.«
Von diesem Moment an ist Aaron blind, und sie leidet an einer Teilamnesie. Sie weiß, dass sie Fehler gemacht und schwere Schuld auf sich geladen hat, aber sie kann einfach nicht mehr alle Vorgänge rekonstruieren. Umso quälender suchen sie ihre löchrig gewordenen Erinnerungen immer wieder heim. In ihren Albträumen tun sich Abgründe auf: Warum hatte sie einen Alleingang unternommen? Warum hatte sie Niko verletzt zurückgelassen, keinen Notruf abgesetzt? Und all das, obwohl sie mit Niko ein Verhältnis hatte – klammheimlich, denn private Beziehungen innerhalb der Abteilung waren streng tabu, und sie wären beide gefeuert worden, wenn ihnen jemand auf die Schliche gekommen wäre.
Über lange fünf Jahre hin baut sich Jenny Aaron jetzt ein neues Leben auf, und sie erweist sich als zäher denn je. Unterstützt von ihrem Vater lernt sie die Blindenschrift und absolviert härteste Trainingskampagnen. Vor allem hypersensibilisiert sie sämtliche ihr verbliebenen Sinne. Sie entwickelt ein »Klicksonar«, um sich durch Schnalzen mit der Zunge oder Schnipsen mit den Fingern zuverlässig im Raum orientieren zu können, und durchläuft eine Samurai-Kampfausbildung. Ihr Lieblingsbuch ist Max Frischs Roman »Mein Name sei Gantenbein« über einen Sehenden, der sich als Blinder ausgibt, um sein Leben besser ertragen zu können.
Mit Mitte Dreißig ist Aaron dann wieder an Bord. Beim BKA in Wiesbaden hat sie einen Schreibtischjob als Fallanalytikerin im Antiterrorkampf und bei komplexen Ermittlungen zur organisierten Kriminalität. Dienstreisen nach Berlin hat sie bisher abwenden können. Sie hatte Angst, ihren alten Teamkollegen wieder zu begegnen, speziell dem älteren Pavlik, der die Neue in der »Abteilung« damals wie ein guter Freund mit Familienanschluss aufgenommen hatte. Dann aber geschehen Dinge, die eine Reise nach Berlin erzwingen. In der JVA Tegel hat ein Mehrfach-Mörder die Gefängnispsychologin niederträchtig ermordet. Bei seinen Vernehmungen ist der Mann zu keiner aufklärenden Aussage bereit – »nur mit Frau Aaron« will er reden.
Erst am Ende dieses hochspannenden, temporeichen und brutalen Thrillers wird die blinde Superheldin Jenny Aaron erkennen, dass sie in eine von langer Hand raffiniert vorbereitete Falle getappt ist und die Vergangenheit sie einholt.
Dies ist der zweite Roman des Berliner Autors Andreas Pflüger. Seit seinem Erstling (»Operation Rubikon«) sind zwölf Jahre verstrichen. Dass »Endgültig« so professionell wirkt und auf vielfache Weise überzeugt, hat sicher mit Pflügers Hauptbeschäftigung zu tun: Als Autor von mehr als zwanzig »Tatort«-Drehbüchern hat er jede Menge Expertise, wie man ein Millionenpublikum gewinnt und bei der Stange hält. Grundlage ist ein raffinierter, komplexer Plot, der seine Geheimnisse sehr lange vor naseweisen Lesern verbergen kann. Er ist allerdings ziemlich überzogen. Der Täter hätte sein Ziel so viel einfacher erreichen können …
Sodann hat Pflüger eine Protagonistin geschaffen, wie es noch keine gab: Einerseits ist sie Supergirl, eine auf das Maximum programmierte Heldin mit übermenschlichen Kräften, rundum sympathischen Eigenschaften (ihre Augen: »perfekt und wunderschön«) und hehren Tugenden, frei von Lastern und kruden Marotten, bei den Kollegen beliebt und geschätzt. Andererseits erlegt ihr der Autor ein gewichtiges Handicap auf. Doch das bricht sie nicht, sondern lässt sie nur noch weiter wachsen. Eine blinde Ermittlerin, die die Sehenden das Fürchten lehrt und den schlimmsten Verbrechern das Handwerk legt.
Bei so viel Heldentum und internationalem Ränkespiel denkt man unweigerlich an ironisch-verspielte Überhöhung nach James-Bond-Art. Doch Andreas Pflüger liefert mehr. Die Blindheit seiner Hauptfigur ist ihm kein bloßer Gimmick, sondern eine ernste Herausforderung. Mit größter Sorgfalt und Konsequenz gestaltet er die Erzählung so, dass der Leser die Welt aus Jenny Aarons Empfinden heraus erlebt. Beschreibungen von Handlungsorten, Gegenständen und Personen fehlen, die Wahrnehmungen der nicht-optischen Sinne müssen interpretiert werden. Wenn Jenny Aaron mit offenen O-Lippen schnalzt, »lokalisiert [sie] einen Lichtmast. Oder zwei? Links eine massive Säule. Werbung? Belüftung? Rechts steht ein Bus, laufender Motor, johlende Schulklasse, Wortfetzen, skandinavische Sprache«.
Im Nachwort erläutert der Autor seine intensive Recherche über Blinde. Mehrere Wissenschaftler haben ihm zur Seite gestanden, und er hat etliche Betroffene persönlich konsultiert. Was er in seiner Fiktion auf eine Person komprimiert darstellt, ist gar nicht so unrealistisch. Pflüger hat viele Frauen kennengelernt, die ihr Leben mit der Behinderung vortrefflich meistern und ihre Positionen in der Berufswelt neben Gesunden behaupten.
Sicherlich werden diesem gelungenen Krimi, der in seiner nüchternen, präzisen Sprache (Action im Präsens, Jenny Aarons Erinnerungen im Imperfekt) eingängig zu lesen ist, weitere Bände folgen. Ob der Autor wohl auch schon ein Drehbuch-Konzept für die Verfilmung in der Schublade hat?