Ein Plädoyer für die Freude am Lernen
Seit 1948 ein UN-verbrieftes Menschenrecht: das Recht auf Bildung. Von den Bewohnern der »ersten Welt« als Selbstverständlichkeit kaum noch gewürdigt, stößt seine Durchsetzbarkeit in den ärmsten Ländern der Erde immer noch an Grenzen.
Von seiner Schulzeit erzählt der Autor des Romans »Die Regenbogentruppe«. Kann uns das noch interessieren, nach einhundert Jahren allgemeiner Schulpflicht in Deutschland und hinreichender literarischer Auseinandersetzung mit allen möglichen Façetten dieser Errungenschaft (Thomas Mann, Robert Musil, Hermann Hesse, Frau Freitag)?
Oh ja, denn Autor Andrea Hirata wurde 1975 auf der indonesischen Insel Belitung, östlich von Sumatra, geboren, und sein Bildungsweg war von Anfang an außergewöhnlich.
Infrastruktur und soziales Umfeld
Das winzige Bauwerk, das vielleicht seine Schule werden konnte, ist baufällig, windschief und ständig vom Einsturz bedroht – »es hätte nur eines Ziegenbocks bedurft, der hinter einer Ziege her war«. Damit das Schulministerium es nicht endgültig schließt, müssen am ersten Schultag mindestens zehn Schüler erscheinen. Kinder gibt es zwar genug, aber ihre Eltern schuften im Zinn-Abbau, sind Fischer, Landarbeiter, Lastenträger, Gärtner oder Kokosraspler. Keine Familie dieser ärmsten und bildungsfernen Bevölkerungsschicht kann auf den hilfreichen Beitrag verzichten, den die kleinen Hände ihrer Kinder erbringen. Ob stattdessen der Besuch der Dorfschule dem Kind oder der Familie eine bessere Zukunft ermöglichen kann, weiß niemand. Und doch kommen zehn Kinder zusammen – »Ikal« (»Lockenkopf«, wie der kleine Andrea genannt wird) ist eines von ihnen.
Die Schülerschaft
Alle sind sich des Opfers bewusst, das ihre Familien erbringen; alle wissen, was für ein Privileg sie genießen; alle sind stolz. Keiner würde je eine Stunde schwänzen oder sich über den Unterricht beklagen; jeder setzt seinen Ehrgeiz darein, die gestellten Aufgaben mit äußerster Sorgfalt zu erledigen – denn jeder kennt die einfache Wahrheit: Bildung nützt am meisten dem eigenen Fortkommen und dem der Familie.
Lintang hat den weitesten Schulweg. Er wohnt mit seiner Großfamilie am anderen Ende der Insel. Schon vor dem Morgengrauen verlässt er jeden Tag das Haus und fährt mit dem Fahrrad, an dessen Sattel er nicht reicht, los, um die vierzig Kilometer unbefestigter Wegstrecke pünktlich bis Schulbeginn zu schaffen. In den Monsunzeiten, wenn alles unter Wasser steht, gelingt ihm dies oft nicht; dann muss er sein Rad schieben und sich durch Mangrovensümpfe schlagen, in denen sich Krokodile und anderes gefährliches Getier tummeln. Aber Lintang kann nichts schrecken. Intelligent wie er ist, fällt ihm das Lernen leicht, und er ist ein mathematisches Genie. Er wird den Intelligenzwettbewerb der besten 100 Schüler des Landes gewinnen; sein Erfolg wird die Schule aufwerten und zunächst ihren Fortbestand sichern.
Das pädagogische Personal und seine Qualifikation; das Curriculum
Unterrichtet wird die kleine Gruppe von Bu Mus. Sie ist fünfzehn Jahre alt, hat einen Mittelschulabschluss und empfindet aufrichtige Bewunderung für den »noblen Beruf« des Lehrens. Anstatt zu heiraten oder einen lukrativen Job in der Verwaltung der Bergbaugesellschaft anzutreten, verkündet sie: »Ich will Lehrerin werden.« Dabei leiten sie humanistische Ideale, traditionelle Werte und islamische Frömmigkeit. Auf Bu Mus’ Lehrplan steht dementsprechend neben der »akademischen« Grundausbildung auch die praktische zur Bewältigung des Alltags – Kochen, Gärtnern, Sticken (schließlich wird erwartet, dass jeder den Festschmuck für hohe Feiertage selbst herstellen kann) – sowie religiöse Unterweisung (»Betet zur rechten Zeit, dann werdet ihr auch belohnt.«).
Bu Mus vermittelt nicht nur Kenntnisse oder generiert Einsichten, sondern sie lebt ein vielschichtiges Beispiel vor. Ihre Schüler spüren, dass jedes einzelne Kind, das man ihr anvertraut hat, für sie ein wertvolles Gut ist. Sie erkennen, woraus Bu Mus Lebensglück gewinnt und dass das auch in Armut möglich ist. Lohn erhält Bu Mus keinen. Sie muss für ihr Auskommen nebenbei Näharbeiten übernehmen.
Gesellschaftspolitische Relevanz von Bildung
Der Boden unter dem klapprigen Schulgebäude birgt die Rohstoffe, die für die Bergbaugesellschaft kostbar sind. Eines Tages rücken denn auch Schaufelbagger an, um die vergleichsweise wertlose Schule niederzuwalzen. Doch Bu Mus und die Kinder sind mittlerweile zu einer eingeschworenen Gemeinschaft gewachsen, und »die Regenbogentruppe« formiert sich zum Widerstand gegen die materialistische Bedrohung: »Reißt die Schule nieder … Zerstört sie – aber nur über meine Leiche!« Ein mutiger, kämpferischer Einsatz gegen ein marktbestimmendes, kapitalistisches Imperium nimmt seinen Anfang – und wird alle Beteiligten für ihr Leben prägen.
Die Auseinandersetzung hat über die persönliche Ebene hinaus eine geradezu symbolische Dimension: Von 1967 bis 1998 bestand in Indonesien die Diktatur des Generals Haji Mohamed Suharto. Seine Politik war gekennzeichnet durch Menschenrechtsverletzungen, Intoleranz gegenüber nationalen und religiösen Minderheiten und die systematische Ausbeutung der Bodenschätze des Landes.
Andrea Hiratas beeindruckendes Buch ist weit mehr als ein autobiografisches Dankeschön an seine Lehrerin. Viele kleine Erzählungen, die so ganz nebenbei in den Hauptstrang des Bildungsgangs einfließen, vermitteln uns ein anschauliches, anrührendes Bild seines Heimatlandes. Der große Inselstaat ist reich an Mythen und Traditionen, litt aber fünf Jahrhunderte unter Ausbeutung und Unfreiheit als portugiesische und niederländische Kolonie und unter der Suharto-Diktatur. Heute werfen global players aus Ost und West einen gierigen Blick auf die umfänglichen Ressourcen des hauptsächlich landwirtschaftlich ausgerichteten Landes, und eine gigantische Kluft trennt die wenigen Wohlhabenden in ihren Ghettos vom armen Rest der Bevölkerung.
In diesem Kontext schmerzhafter und ungerechter Bedingungen lesen wir ein überzeugendes Plädoyer für allumfassendes Lernen und eine Reflexion über den Sinn von Schule, die trotz erbärmlichster Voraussetzungen vielleicht mehr an Bildung zu schaffen vermag als unser hochgezüchtetes System.
Das Buch erschien 2005 unter seinem Originaltitel »Laskar Pelangi« in Indonesien, hatte riesigen Erfolg und wurde 2008 dort verfilmt (2009 wurde der Film auf der Berlinale gezeigt.). Im März wurde Andrea Hirata für »Die Regenbogentruppe« (übersetzt von Peter Sternagel) mit dem ITB Book Award der Tourismusmesse 2013 ausgezeichnet.