Der lange Atem der Kindheit
Ist das tatsächlich ein »Camilleri«? Wo ist das sizilianische Flair, wo der Dialekt, wo sind die komödiantischen Einlagen? Der Autor hat sich hier einem ungewohnten Sujet zugewandt, einer Art psychologischem Kammerspiel für sieben Akteure. Entstanden ist nicht das beste, sicher aber das herbste Buch dieses immens produktiven und vielseitigen, ebenso sozialkritischen wie versöhnlichen Erzählers, der niemals eine heile Welt beschwört, immer aber eine im Grunde liebenswerte. Auch hier?
Ungewöhnlich ist sogar der Erzählstil dieses kurzen Büchleins, das man in einem Nachmittag verschlingen wird. Dank der dichten Konzeption und dramatischen Gestaltung läuft die Handlung auch beim Lesen wie auf einer Theaterbühne oder Kinoleinwand ab. (Immerhin hat Camilleri viele Jahre seines Lebens als Regisseur und Hochschullehrer für darstellende Künste gearbeitet.) Die Sprache ist spröde, trocken und zugespitzt, ungemildert durch dialektale Färbung, hintergründige Ironie oder zwischen den Zeilen zwinkerndes Verständnis für menschliche Schwächen – nichts davon hier. Hier ist jeder Mensch ausgeliefert – seinen Ursprüngen, seinem Schicksal und den unausweichlichen Folgen seines Handelns.
Der Schlüssel der Handlung liegt in traumatischen Erlebnissen, die sich tief in die Seelen von sieben befreundeten Kindern eingraben. (Näheres kann man kaum andeuten, ohne die Spannung zu zerstören.)
In gewisser Weise hat der Roman eine etwas mechanistische, schematische Struktur. Das erste Kapitel berichtet die Geschehnisse aus der Kindheit der vier Mädchen und drei Jungen noch unvollständig; erst das letzte (elfte) Kapitel greift das erste auf, ergänzt und klärt die Ereignisse. Dazwischen erleben wir mit, wie jene Erfahrungen die Freunde durch ihre schwierige Jugend hindurch bis ins Erwachsenendasein belasten und prägen. Sie machen bürgerliche Karrieren, unterdrücken ihre Traumata von außen betrachtet erfolgreich, die Paare scheinen Frieden halten zu wollen.
Doch sie sind allesamt unweigerlich Opfer – ihrer Fähigkeit zu lieben beraubt, besessen von eigenartigen Leidenschaften, stets allein, ohne familiäre Geborgenheit – und werden zu Tätern, selbstzerstörerischen Einzelkämpfern. Wie sich ihre Freundschaften durch Missverständnisse, überraschende Wendungen und aufschlussreiche Bezüge auf Vergangenes entwickeln, ist spannend und verstörend zu lesen – bis zum Kulminationspunkt: jenem Abendessen an einem Samstag, bei dem ein schmerzhaftes Spiel seinen katastrophalen Lauf nimmt und alles Verschüttete umso destruktiver wieder ans Tageslicht bricht, um zu explodieren ...
So ein Ensemble schwer beschädigter Einzelpersonen ist natürlich ebenso wenig als realistisches Porträt zu verstehen, wie die Figuren in Camilleris Mythologie-Trilogie [ › Rezensionen zu Maruzza Musumeci u.a.] realistisch sein sollen und können. Vielmehr geht es dem Autor darum, dem Leser (drastisch) vor Augen zu führen, wie unsere Erwachsenenexistenz untrennbar aus den Wurzeln unserer Kindheit erwachsen ist – mit bisweilen fataler Konsequenz. Wenn »Erziehung« die Einflussnahme der Erwachsenenwelt auf das Kind ist, so lenkt Camilleri unseren Blick hier auf die Kehrseite der Medaille: die Einflussnahme der Kind-Welt auf das Sein des Erwachsenen.
Wie die Personen im Roman mag mancher Leser am Ende zu ergründen versuchen, was seine eigenen frühesten Erinnerungen sind, wodurch er damals geprägt wurde, wo seine Wurzeln gründen ... und natürlich wissen wir schon seit Annette von Droste-Hülshoff um die Relevanz dieser Zusammenhänge bei der Beurteilung der Schuld jugendlicher Straftäter.
Nach den vielen Montalbano-Geschichten [ › Rezensionen], historischen Romanen [ › Rezensionen zu La moneta di Akragas, La setta degli angeli] und dem Rekurs auf Motive aus der griechischen Mythologie [s.o.] finden wir hier eine vierte Sparte in Camilleris Werk, der man auch "Das graue Kleid" zuordnen kann: psychosoziale Studien.
Die deutsche Übersetzung erschien im Juli 2013 unter dem Titel »Ein Samstag unter Freunden« bei Kindler.