Eine Stimme in der Nacht
von Andrea Camilleri
Ein Supermarktleiter hängt sich auf, ein Wachmann wird erschossen, eine rassige Studentin erstochen und der Kommissar von einem Tintenfisch bedroht.
Geschäft und Macht, Mafia und Politik
Dass Livia früh am Morgen bei Salvo Montalbano anruft, ist ja im Prinzip keine unerfreuliche Überraschung. Der Anlass schon. Achtundfünfzig werde er heute, sagt sie! Die mathematischen Spitzfindigkeiten, mit denen er die unangenehmen Tatsachen wegzubiegen versucht, vergrätzen nur die Anruferin. Den Tag kann er abhaken. Auf dem Weg ins Kommissariat überholt ihn ein junger Drängler auf halsbrecherische Weise und beschimpft ihn auch noch als »Opa« und »Tattergreis«! Das Maß ist voll, und Salvo wird sich ganz gegen seine Art zu einer persönlichen Rache an dem Flegel hinreißen lassen.
In kurzer Zeit bekommt es der commissario mit drei Toten zu tun. Ein Wachmann wird auf Mafia-Art erschossen, Guido Borsellino, der Leiter eines Supermarkts, erhängt sich in seinem Büro, nachdem ihn Salvo wegen eines angeblichen Überfalls in die Zange genommen hat, und schließlich meldet just jener Verkehrsrowdy vom Geburtstagsmorgen, er habe seine Verlobte brutal erstochen in seiner Wohnung aufgefunden.
Hat tatsächlich die Polizei Borsellino in den Tod getrieben, wie ein lokaler Fernsehsender Stimmung macht? Der ewig grantelnde Gerichtsmediziner dottor Pasquano sieht das ganz anders. Nach seinen Erkenntnissen war es gar kein Selbstmord. Und auch der blutige Mordfall der bildhübschen Studentin offenbart bald seine Tücken, denn das Verhalten des Rüpels lässt ihn selbst als tatverdächtig erscheinen – aber er steht unter besonderem Schutz, denn er heißt Giovanni Strangio, und sein Vater ist der Präsident der Provinz.
So gewinnt eine komplizierte Handlung Fahrt, die mit allerlei Verwicklungen und Überraschungen aufwartet und in deren Verlauf verschwiegene Verflechtungen und handfeste gemeinsame Interessen zwischen hohen Kreisen der Politik und dem bestens organisierten Verbechen aufgedeckt werden. Versteht sich, dass solche Leute alle Register ziehen, um sich nicht in die Karten schauen noch von ein paar simplen Polizisten ins Handwerk pfuschen zu lassen. Einschüchtern lassen sich Montalbano und sein bewährtes Team natürlich von nichts und niemandem, aber die schlimmen Zustände verfolgen Salvo Montalbano bis in den Traum. Da verhaftet er Al Capone in Chicago …
Wer die Reihe kennt, weiß auch in diesem Band zu schätzen, wie der Autor uns in bewährter Weise mit offenen Karten durch sein Labyrinth führt. Die Fälle beginnen parallel und verflechten sich dann immer tiefer miteinander. Wir dürfen stets dem commissario auf den Fersen bleiben, sind bei all seinen Verhören und den Besprechungen mit Fazio und Mimì Augello dabei und können also immer mitraten beziehungsweise seinen Gedanken folgen, aus denen sich am Ende die Lösung ergibt. Keine exzessiven Brutalitäten, keine wüsten Schlägereien, keine Täuschungen, keine Tricks, keine Geheimnisse (außer denen der Täter).
Der Protagonist hadert zwar auch diesmal etwas mit seinem unaufhaltsam vorrückenden Alter, doch das Thema steht nicht im Mittelpunkt seiner Befindlichkeit. Es bleibt bei gelegentlichen Anfällen schlechter Laune und ein paar ironischen Bemerkungen, aber er jammert nicht. Vielmehr tröstet er sich ungeachtet aller gesundheitlichen Risiken mit üppigen Portionen aus Enzos und Adelinas Kochtöpfen, begleitet von Wein, Whisky und Zigaretten, über jeden Ärger hinweg. Witzig, dass ein großer (geträumter) Tintenfisch Rache nimmt, indem er sich einfach nicht verdauen lassen will.
Auch die ewige Beziehung zu Livia, der ligurischen Verlobten, erscheint hier nur in Gestalt der üblichen Missverständnisse und Gereiztheiten am Telefon. Nach Auskunft des Autors im Nachwort soll der Leser sich aber nicht wegen Wiederholungen oder Inkonsistenzen der Reihe grämen, denn er habe den Roman schon ein paar Jahre früher verfasst und wegen der »verschlungenen Pfade der verlegerischen Entscheidungsfindung« erst später (Oktober 2012) veröffentlicht.
Wie immer verbringt man mit commissario Montalbano und seinen Mitstreitern im Kampf für eine etwas bessere Welt ein paar schöne Stunden spannender, intelligenter, humorvoller Unterhaltung in vertrauter Umgebung – räumlich, personell und sprachlich, denn auch die Übersetzer Rita Seuss und Walter Kögler gehören mit ihrer sorgfältigen Wortwahl und dem unaufgeregten Ton inzwischen dazu.
Meine Rezension zur Verfilmung dieses Romans (mit einer detaillierteren Inhaltsangabe) finden Sie › hier.