Unsicherer Boden unter den Füßen
Nimmermüde scheint der Neunzigjährige, ungebrochen seine Kreativität und unerschöpflich seine Fantasie. Allerdings bietet ihm seine sizilianische Heimat (wie das ganze Land Italien) mit ihrer reichen Kultur und Geschichte (und vielen, vielen ungelösten Problemen bis in die Gegenwart) jede Menge Stoff für neue Romane. Wenn Andrea Camilleri am Ende seines kleinen Büchleins »La relazione« (2015), das jetzt in der Übersetzung von Karin Krieger auf Deutsch erschien, treuherzig versichert, alles sei »von vorn bis hinten frei erfunden … basiere jedoch auf realen Fakten«, darf man ruhig hochrechnen, dass sich das Erzählte ohne weiteres genau so in der Realität zugetragen haben könnte. Wie schon oft widmet sich der Altmeister dem Treiben der gefräßigen, nimmersatten Hydra namens Mafia, gegen die offenkundig noch immer kein Kraut gewachsen ist. Wenngleich die Polizeiapparate in den letzten Jahrzehnten immer wieder spektakuläre Festnahmen zelebrieren konnten, läuft in Wirtschaft und Politik nichts ohne Korruption und organisiertes Verbrechen. Wer dagegen angeht, muss damit rechnen, seines Postens enthoben oder unsanft aus dem Weg geräumt zu werden. »Die Verlockung« illustriert all dies in einer tragikomischen Geschichte.
Mauro Assante ist Wirtschaftsprüfer in Rom, gewissenhaft, unbefangen und unbestechlich. Fleißig hat er in der Banca Santamaria recherchiert und seinen Finanzbericht inzwischen fast fertiggestellt. Für das Finish versichert er sich absoluter Ruhe, trennt alle Kommunikationsgeräte von ihren Netzen, zieht gar die Vorhänge ein wenig zu, damit er nur ja nicht abgelenkt werde, wenn er abschließend jedes Verb, jedes Adjektiv, jede Syntax der komplexen Beweisführung auf Präzision und Stringenz überprüft. Dass Muttina, seine geliebte Ehefrau, mit dem kränklichen Söhnchen Stefano zu ihren Eltern ins Trentino gefahren ist, kommt ihm da sehr gelegen. Ist der Bericht abgegeben, wird er ihnen nachreisen.
Doch alle Abschottung ist zwecklos. Mauro ahnt nicht, dass er von rätselhaften Mächten ferngesteuert, seine Ruhe gestört, seine Konzentration behindert, seine Selbstsicherheit unterminiert wird. Dass die ältliche Baronessa aus der Wohnung über ihm den Strohwitwer zum Abendessen einlädt und am Vorabend nochmal klingelt, um an die Verabredung zu erinnern, ist lästig, aber nicht so beunruhigend wie die Tatsache, dass er bei der Rückkehr vom Büro seine Wohnungstür unverschlossen findet. Mauro, bislang die personifizierte Fehlerlosigkeit, tröstet sich mit der Erklärung, schon sehr in Hektik gewesen zu sein. Aber dann verschwindet seine Brille, und der Frieden ist wieder dahin. Noch eine ganze Serie weit schwerer wiegende und an schrecklicheren Folgen reiche Zwischenfälle erwarten den Mann. Während wir einen Querschuss nach dem anderen staunend und amüsiert zur Kenntnis nehmen, ist Signor Assante angesichts seiner unerklärlichen Pechsträhne zur Ratlosigkeit verdammt.
Während Mauros gewohnter Seelenfrieden zu zerbröseln beginnt, kann er wenigstens auf das Verständnis seines Chefs zählen. Der leitende Inspektor Biraghi beruhigt ihn: »Lassen Sie sich alle Zeit, die Sie brauchen.« Natürlich ist das Augenwischerei, denn jeder Zeitaufschub ist den Herren aus der Vorstandsetage der Banca Santamaria und ihren freundschaftlich verbundenen mächtigen Politikern willkommen, um in aller Ruhe ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen.
Mauros endgültiger Nervenzusammenbruch rückt unaufhaltsam näher, die Schwierigkeiten nehmen überhand und drohen, ihn Arbeitsplatz, Karriere, Kopf, Kragen und Gesundheit zu kosten. Muttina ruft regelmäßig an und erkundigt sich nach seinem Wohlergehen, doch wie könnte er ihr erklären, was ihm geschieht? Zumal als eine hinreißende Blondine auftaucht – sicher eine Verwechslung, aber doch eine schöne Gabe des Himmels, wie Mauro glaubt – und ihm in seiner übergroßen Not verständnisvolle offene Ohren und ihn zärtlich umfangende Arme schenkt.
Natürlich sind die Ereignisse, die den armen, für einen erfolgreichen Profi in leitender Stellung viel zu gutgläubigen Naivling an den Rand des Untergangs schliddern lassen, stark überzogen, ebenso wie die Machenschaften der intriganten Übermacht nicht für bare Münze genommen werden können. Andrea Camilleri bevorzugt hier die Waffe geistreichen Humors und scharfer Zuspitzung, um ernste Missstände bloßzustellen, und bietet damit amüsant fabulierte, hintergründige, wenn auch etwas schematisch angelegte Unterhaltung.