Das Große im Kleinen, das Kleine im Großen
Es gibt sie also noch (oder wieder?), die kraftvolle short short story.
Mit der Wucht einer Pfeilspitze trifft sie genau den Moment im Leben, der mehr ist, als er scheint. Auf ein, zwei Seiten bekommt der Alltag auf einmal feine Risse, unter vertrauter Oberfläche klingt es hohl, Schuppen fallen von den Augen, eine Wahrheit findet Anerkennung, eine Lüge bricht zusammen. Da schämt sich einer, oder entschuldigt sich, oder stiehlt sich davon, oder stellt sich der Realität – oder setzt noch einen drauf.
Dem Universitätsprofessor ist es peinlich genug, dass sich sein Zehn-Euro-Schein in der Bäckerei seines Vertrauens als unecht erweist; jetzt ist seine Ehrbarkeit angeknackst. Wieder auf der Straße, dreht er das Falschgeld kurzerhand – »mit einem Fuchsgesicht« – einem seiner arglosen Studenten an (»Volpe: Fuchs«).
Andere stories setzen nicht auf den Effekt einer Pointe, sondern verdichten, oft mit Hilfe markanter Dingsymbole, eine Entwicklung oder eine Situation: wie eine Fahne am Balkon über die Jahre ausbleicht, während die Familie in der Wohnung hinter dem Fenster ihren Zusammenhalt verliert (»Bandiera: Fahne, Flagge, Banner«); wie ein billiges, einem Straßenverkäufer abgekauftes Armbändchen sich mit Lebenserinnerungen verknüpft (»Filo: Faden, Leitung«); wie ein kleiner Junge von seinem Vater behutsam in eine Baumkrone hinaufgehoben wird: »Dein Vater hatte dir gezeigt, dass man auf ihnen wie in einem Sattel sitzen und reiten kann. Er hatte dich hochgehoben und auf den untersten Ast gesetzt. Die Blätter waren plötzlich zum Greifen nahe. Du hattest sie angefasst, wie beim Händeschütteln: ›Freut mich.‹ Im Nu war die Welt ganz groß geworden.« (»Corteccia: Borke, Rinde, äußere. Erscheinung«)
Mit den Protagonisten manövrieren wir durch die Untiefen zwischenmenschlicher Beziehungen, amüsieren uns über kleine Gemeinheiten, staunen über versteckte Schönheit, erschrecken über unerwartete Ungerechtigkeiten – und halten einen Moment lang nachdenklich inne.
Was Andrea Bajani (1975 geboren und für seine Romane mit etlichen italienischen Preisen ausgezeichnet) hier vorlegt, sind wahre Meisterwerke der Miniaturisierung. Indem er die disparatesten Themen verquickt, balanciert sein Stil wundervoll zwischen leichtfüßiger Erzählung und lyrischen Elementen. Bisweilen erinnert ein lakonisch-präziser Erzählton an Hemingways Nick-Geschichten, dann wieder eine zart-sonnige Kinderszene an Katherine Mansfield, auch dunkle, rätselhafte Szenen von Verlorenheit und Bedrohung wie bei Kafka bleiben nicht aus. Wie schön, dass es der Übersetzerin Pieke Biermann meisterlich gelungen ist, all dies auch deutschsprachige Leser genießen zu lassen.
Die Perspektive ist durchgehend jene eigentümlich intime der 2. Person Singular (»Du gehst …«), die jeden Leser, ob männlich oder weiblich, zu Identifikation und Solidarität drängt. Wir teilen die Geheimnisse, ob wir wollen oder nicht. Gelegentlich weist ein kleiner Zusatz in die einzunehmende Rolle: »Dann kamst du an die Reihe, die mittlere Tochter.« – »Dieses Kind – und das Kind bist du – bekommt einen melancholischen Zug im Gesicht …«
Eine originelle Bildlichkeit verstärkt die Unmittelbarkeit der Ansprache und verdichtet die Atmosphäre; sie interpretiert den Alltag, filtert durch scharfe Beobachtung oft amüsante Details heraus, wagt sich, wenn nötig, bis an die Grenze des Süßlich-Romantischen: »und sie beendete ihren Erzählfluss so, wie man einen Wasserhahn zudreht« (»Confessione: Beichte, Geständnis, Konfession«) – »diese junge Frau, die beim Busfahren lernt, mit ihren Wunschbändchen, in denen all ihre noch nicht in Erfüllung gegangenen Wünsche stecken« (»Dominus«) – »Die Worte machten, was sie immer machen, wenn du Angst hast: Sie verkriechen sich im Mund, suchen eine geschützte Stelle und kommen nicht mehr zum Vorschein.« (»Corteccia: Borke, Rinde, äußere. Erscheinung«) – »Jedes Mal, wenn er losstürmte, hast du dich kurz aus dem Gespräch ausgeklinkt. Du hattest das Gefühl, in dir steigt jemand auf eine kleine Leiter – genau dort, hinter dem Brustbein –, von wo aus das Spiel deutlich besser zu sehen war. Du hast ihn einfach hochklettern lassen …« (»Infanzia: Kindheit«)
Achtunddreißig durchweg reizvolle short short stories sind hier versammelt, nach ihren (italienischen) Titeln ordentlich alphabetisch sortiert (dem Buchtitel zum Trotz) und durch eine kleine Rahmenerzählung gefasst. Vor den aufmerksamen ABC-Schützen breitet der Lehrer bunte Holzplättchen aus, jedes mit einem Buchstaben des Alphabets: »Dann erklärte er uns, dass das Alphabet aus einundzwanzig Buchstaben besteht. ›Das klingt vielleicht nach wenig‹, sagte er, ›aber mit diesen Buchstaben müsst ihr von nun an alles machen. Mit einundzwanzig Buchstaben‹, sagte er, und dabei nahm er sie in die Hände und hielt sie jedem von uns unter die Nase, ›kann man die Welt erbauen und zerstören, kann man geboren werden und sterben, lieben, leiden, drohen, helfen, bitten, befehlen, flehen, trösten, lachen, fragen, sich rächen, streicheln.‹« Die Aufzählung umreißt, was sich in den kleinen Geschichten zuträgt: zeitlose Erfahrungen, Bedeutsames im Alltäglichen.
Das Büchlein ist großzügig gelayoutet (wie es einem Bändchen voller Fast-Gedichte zusteht), ein wunderbar edles kleines Hardcover-Geschenk für jede Gelegenheit und eine schöne, beglückende Lektüre, besonders für junge oder werdende Eltern.