Rezension zu »Das Leben hält sich nicht ans Alphabet« von Andrea Bajani

Das Leben hält sich nicht ans Alphabet

von


Erzählungen · dtv · · Gebunden · 128 S. · ISBN 9783423280969
Sprache: de · Herkunft: it · Region: Italien

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Das Große im Kleinen, das Kleine im Großen

Rezension vom 17.11.2016 · 2 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Es gibt sie also noch (oder wieder?), die kraftvolle short short story.

Mit der Wucht einer Pfeilspitze trifft sie genau den Moment im Leben, der mehr ist, als er scheint. Auf ein, zwei Seiten bekommt der Alltag auf einmal feine Risse, unter vertrauter Ober­fläche klingt es hohl, Schup­pen fallen von den Augen, eine Wahr­heit findet Aner­kennung, eine Lüge bricht zu­sam­men. Da schämt sich einer, oder ent­schul­digt sich, oder stiehlt sich davon, oder stellt sich der Realität – oder setzt noch einen drauf.

Dem Universitätsprofessor ist es peinlich genug, dass sich sein Zehn-Euro-Schein in der Bäcke­rei seines Ver­trauens als unecht erweist; jetzt ist seine Ehr­bar­keit ange­knackst. Wieder auf der Straße, dreht er das Falsch­geld kurzer­hand – »mit einem Fuchsgesicht« – einem seiner arglosen Studenten an (»Volpe: Fuchs«).

Italienische Originalausgabe:
»La vita non è
in ordine alfabetico
«
(2014, Verlag Einaudi)
Andrea Bajani: »La vita non è in ordine alfabetico« auf Bücher Rezensionen
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Andere stories setzen nicht auf den Effekt einer Pointe, sondern verdichten, oft mit Hilfe markanter Ding­symbole, eine Ent­wick­lung oder eine Situation: wie eine Fahne am Balkon über die Jahre aus­bleicht, wäh­rend die Familie in der Wohnung hinter dem Fenster ihren Zusam­men­halt verliert (»Bandiera: Fahne, Flagge, Banner«); wie ein billiges, einem Straßen­ver­käufer abge­kauftes Arm­bänd­chen sich mit Lebens­erinne­rungen verknüpft (»Filo: Faden, Leitung«); wie ein kleiner Junge von seinem Vater behut­sam in eine Baum­krone hinauf­gehoben wird: »Dein Vater hatte dir gezeigt, dass man auf ihnen wie in einem Sattel sitzen und reiten kann. Er hatte dich hoch­ge­hoben und auf den untersten Ast gesetzt. Die Blätter waren plötzlich zum Greifen nahe. Du hattest sie ange­fasst, wie beim Hände­schütteln: ›Freut mich.‹ Im Nu war die Welt ganz groß geworden.« (»Corteccia: Borke, Rinde, äußere. Erscheinung«)

Mit den Protagonisten manövrieren wir durch die Untiefen zwischen­mensch­licher Bezie­hungen, amüsieren uns über kleine Gemein­heiten, staunen über ver­steckte Schön­heit, erschre­cken über uner­wartete Unge­rechtig­keiten – und halten einen Moment lang nach­denklich inne.

Was Andrea Bajani (1975 geboren und für seine Romane mit etlichen italie­nischen Preisen ausge­zeichnet) hier vorlegt, sind wahre Meister­werke der Miniatu­risierung. Indem er die dis­parates­ten Themen verquickt, balan­ciert sein Stil wunder­voll zwischen leicht­füßiger Erzählung und lyrischen Elementen. Bis­weilen erinnert ein lakonisch-präziser Erzähl­ton an Heming­ways Nick-Geschichten, dann wieder eine zart-sonnige Kinder­szene an Katherine Mans­field, auch dunkle, rätsel­hafte Szenen von Ver­loren­heit und Be­drohung wie bei Kafka bleiben nicht aus. Wie schön, dass es der Über­setzerin Pieke Bier­mann meister­lich gelungen ist, all dies auch deutsch­sprachige Leser genießen zu lassen.

Die Perspektive ist durchgehend jene eigentümlich intime der 2. Person Singular (»Du gehst …«), die jeden Leser, ob männlich oder weiblich, zu Identi­fikation und Solida­rität drängt. Wir teilen die Geheim­nisse, ob wir wollen oder nicht. Ge­legent­lich weist ein kleiner Zusatz in die ein­zuneh­mende Rolle: »Dann kamst du an die Reihe, die mitt­lere Tochter.« – »Dieses Kind – und das Kind bist du – bekommt einen melan­choli­schen Zug im Gesicht …«

Eine originelle Bildlichkeit verstärkt die Unmittel­barkeit der Ansprache und verdichtet die Atmos­phäre; sie inter­pretiert den Alltag, filtert durch scharfe Beobach­tung oft amüsante Details heraus, wagt sich, wenn nötig, bis an die Grenze des Süßlich-Roman­tischen: »und sie beendete ihren Erzählfluss so, wie man einen Wasser­hahn zudreht« (»Confessione: Beichte, Geständnis, Konfession«) – »diese junge Frau, die beim Busfahren lernt, mit ihren Wunsch­bänd­chen, in denen all ihre noch nicht in Er­füllung gegan­genen Wünsche stecken« (»Dominus«) – »Die Worte machten, was sie immer machen, wenn du Angst hast: Sie ver­kriechen sich im Mund, suchen eine geschützte Stelle und kommen nicht mehr zum Vorschein.« (»Corteccia: Borke, Rinde, äußere. Erscheinung«) – »Jedes Mal, wenn er los­stürmte, hast du dich kurz aus dem Gespräch ausge­klinkt. Du hattest das Gefühl, in dir steigt jemand auf eine kleine Leiter – genau dort, hinter dem Brust­bein –, von wo aus das Spiel deut­lich besser zu sehen war. Du hast ihn einfach hoch­klet­tern lassen …« (»Infanzia: Kindheit«)

Achtunddreißig durchweg reizvolle short short stories sind hier versammelt, nach ihren (italieni­schen) Titeln ordent­lich alpha­betisch sortiert (dem Buch­titel zum Trotz) und durch eine kleine Rahmen­erzäh­lung gefasst. Vor den aufmerk­samen ABC-Schützen breitet der Lehrer bunte Holz­plättchen aus, jedes mit einem Buch­staben des Alpha­bets: »Dann erklärte er uns, dass das Alpha­bet aus einund­zwanzig Buch­staben besteht. ›Das klingt vielleicht nach wenig‹, sagte er, ›aber mit diesen Buch­staben müsst ihr von nun an alles machen. Mit einund­zwanzig Buch­staben‹, sagte er, und dabei nahm er sie in die Hände und hielt sie jedem von uns unter die Nase, ›kann man die Welt erbauen und zer­stören, kann man geboren werden und sterben, lieben, leiden, drohen, helfen, bitten, be­fehlen, flehen, trösten, lachen, fragen, sich rächen, strei­cheln.‹« Die Aufzählung umreißt, was sich in den kleinen Geschichten zuträgt: zeitlose Erfahrungen, Bedeutsames im Alltäglichen.

Das Büchlein ist großzügig gelayoutet (wie es einem Bändchen voller Fast-Gedichte zusteht), ein wunder­bar edles kleines Hardcover-Geschenk für jede Ge­legen­heit und eine schöne, be­glückende Lektüre, beson­ders für junge oder werdende Eltern.


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