Ein Doppelstern
»Witwensteg« nennen manche das schmale Holzgerüst auf den Dachfirsten der Insel Nantucket, denn von dort halten die Fischerfrauen Ausschau nach ihren Männern, die jahrelang auf den Meeren umherstreifen, um Wale zu fangen. Aber wenn Hannah Price Nacht für Nacht auf das Dach des elterlichen Hauses klettert, schaut sie nicht suchend aufs weite Meer, sondern forschend in den unendlichen Himmel.
Wer einen Kometen aufspürt, darf ihm den eigenen Namen verleihen. Von dieser kosmischen Ehre, zu der der König von Dänemark noch eine Goldmedaille und einen ansehnlichen Geldbetrag gibt, träumt Hannah seit ihrer Jugend.
Nun ist sie bereits 24 Jahre alt und lebt mit ihrem Vater allein im Haus; ihr Zwillingsbruder Edward fährt zur See, ihre Mutter verstarb kurz nach der Geburt. Nathaniel Price, ein Bankangestellter, hat dem Mädchen nicht nur die Welt der Zahlen, sondern auch die der Gestirne nahegebracht. Von klein auf begleitete ihn seine »Gehilfin« aufs Dach, um mit der Stoppuhr, die er ihr geschenkt hatte, die Sekunden zu zählen, wenn er einen Stern durchs Objektiv fixierte und dieser langsam an seinen Augen vorbeizog.
Dass seine Tochter immer noch unverheiratet ist, macht nicht nur Nathaniel zu schaffen. Hannah selber fragt sich, »ob sie überhaupt zu tiefen Empfindungen ... fähig war«. Im Geist ihrer puritanischen Quäker-Gemeinde dazu erzogen, ihre Gefühle stets im Zaum zu halten, hatte sie nie trotzig mit »den Füßen gestampft«, nie etwas wütend zu Boden geworfen, nie »in Gegenwart anderer geweint«. Erfüllung erlebt sie nur angesichts des gewaltigen Firmaments, in dem sie nächtens unbekannten Himmelskörpern nachspürt. Dann späht sie konzentriert durch ihr einfaches Fernrohr, vertraut ihren guten Augen und hält sorgfältig in ihrem Tagebuch fest, was sie beobachtet hat.
Eine richtige Sternwarte zu betreuen, das wäre der ideale Beruf für Hannah. Auch wenn sich die Frauen im Massachusetts des Jahres 1845 wie selbstverständlich um Haushalt und Kinder kümmern, während ihre Männer in allem das Sagen haben, erscheint Hannahs Ziel nicht ganz unerreichbar. Immerhin hat sie schon als angehende Astronomin von sich reden gemacht. Ihr Vater unterhält gute Kontakte zu Mr Bond, dem Leiter des großen Observatoriums in Cambridge, und dessen Sohn George steht im Briefwechsel mit Hannah, schickt ihr aktuelle fachwissenschaftliche Publikationen, lädt sie zu sich ein.
Im Ort wird genau zur Kenntnis genommen, wie sich die junge Frau entwickelt und verhält, wenn sie in der örtlichen Bibliothek arbeitet oder die Kinder der Gemeinde rechnen, lesen und schreiben lehrt. Dass sie befürwortet, farbige und weiße Kinder gemeinsam zu unterrichten, und sich sogar massiv für die Freiheit der Sklaven einsetzt, macht sie manchen verdächtig, zumindest unbeliebt. Will sie sich der von Gott gegebenen Ordnung etwa nicht unterwerfen, ihr Leben nicht allein auf Gottgefälligkeit ausrichten, eitlem Erkenntnisdrang frönen? Den Ton geben die strengen Herren der Quäker-Gemeinschaft vor, deren wachsamen Augen nichts Sündiges entgeht.
Seit Edward aus dem Haus ist, hat Vater sich verändert. Erst reiste er mehrmals für längere Zeit nach Philadelphia, und jetzt teilt er Hannah mit, dass er wieder zu heiraten beabsichtigt. Damit stellt er auch Hannah vor eine Entscheidung: Entweder sie muss mit ihm ziehen, oder sie willigt in eine Vernunftehe ein; Doktor Hall, einer der älteren Quäker, steht bereit.
Um diese Zeit sorgt ein weiterer Mann für heftige Unruhe in Hannahs Leben und Gefühlswelt. Im Hafen liegt die Pearl für Instandsetzungsarbeiten vor Anker, und Isaac Martin, Zweiter Maat, bringt dem Vater einen Chronometer zur Reparatur. Fünfeinhalb Sekunden geht er nach – unbrauchbar für die Positionsbestimmung auf hoher See. Als Isaac das Instrument abholt, überrascht und beeindruckt Hannah (die es neu justiert hat) des Seemanns Interesse für das feinmechanische Wunderwerk im Inneren des Gehäuses, das die Zeiger in perfekt konstantem Zyklus treibt. Noch verwunderter ist sie, als der einfache, zurückhaltende junge Mann den Wunsch äußert, in Navigation unterrichtet zu werden. Kann er denn überhaupt lesen und schreiben, beherrscht er die Grundrechenarten?
Hannah lässt sich darauf ein, Isaac die Geheimnisse um Sextant, Fernrohr und Gestirne zu erklären; einmal in der Woche soll er am Abend zum Unterricht erscheinen. Sie gibt ihm Bücher mit, stellt ihm Übungsaufgaben, und Isaac bezahlt mit dem Geld, das er nebenbei bei einem Schmied dazu verdient. Doch trotz seines Talents, seines Fleißes und Ehrgeizes bezweifelt Hannah, dass er jemals als Offizier angeheuert werden wird: Isaac, auf den Azoren geboren, ist ein Farbiger.
Dass sich das gesellschaftlich disparate Paar regelmäßig und privat trifft, verstößt gegen jegliche Konventionen. Es entspricht jedoch Hannahs Überzeugung, »ein jeder, der es möchte, sollte die Möglichkeit haben, sich zu verbessern«. Und beide finden durch den jeweils anderen, was sie im eigenen Leben nie gefunden hätten. Hannah verspürt zum ersten Mal tiefe Gefühle für einen Mann, und erst durch den Umgang mit einem »solchen Menschen« kann sie sich aus der Enge des Gefängnisses befreien, zu dem ihr die rigide, wissenschaftsfeindliche Quäker-Doktrin vom »inneren Licht« (in dem Gott sich jedem Menschen persönlich offenbart) geworden ist. Sie ist dagegen überzeugt, »dass Wissen uns dem Verständnis unseres Schöpfers und seines Planes näherbringt«.
Kurz bevor Nantucket bei einem verheerenden Brand zu einem Drittel zerstört wird, segelt Isaac mit der Pearl weiter. Als er fast zwei Jahre später zurückkehrt, hat er genug von der stupiden Arbeit auf einem Schiff. Er will an Land bleiben, auf Nantucket. Hannah hat ihn gelehrt, »das Land zu lieben, einen Ort zu haben zum Wandern, zum Denken, zum Lernen«. In Hannahs Glauben an ihn hat er Vertrauen zu sich selbst gefunden, »dass ich mich ... erweitern kann«.
Amy Brills unaufgeregter, manchmal etwas trocken formulierter Roman »The movement of stars« (übersetzt von Margarete Längsfeld) führt uns nach Neuengland um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. In diesem Kernland der amerikanischen Besiedelung hatten seit zwei Jahrhunderten verfolgte Glaubensbrüder und -schwestern unterschiedlichster Couleur aus dem repressiven Europa Zuflucht gefunden und eine Vielzahl frommer Lebensgemeinschaften etabliert, die ihrerseits oft repressiv geführt wurden. Wie eine junge Frau, gesegnet mit unabhängigem Geist und frischem Mut, sich in einem Umfeld Andersdenkender durchsetzt und damit einem neuen Verständnis von Individuum, Gesellschaft und Wissenschaft den Weg ebnet, können wir hier anschaulich nacherleben. Doch die rationale, beherrschte Hannah Price ist nicht allein; Isaac Martin ist ihre komplementäre Ergänzung aus einer anderen Welt, den grünen Blumeninseln der Azoren. Die beiden sind wie Doppelsterne im Universum, sie halten einander im Gleichgewicht, das Geben und Nehmen ihrer Kräfte ist ausgeglichen.
Dem einen oder anderen Leser mag es in diesem Buch an Drive fehlen. Heftige Eklats bleiben ebenso aus wie überschwängliche Liebesbekundungen. Abgesehen davon, dass die Mäßigung nun mal seit jeher die zentrale Forderung an jeden rechtschaffenen Puritaner war, macht gerade die zurückhaltende Besonnenheit, mit der die Autorin ihre Protagonisten, deren Umfeld und ihre wechselseitigen Konflikte gestaltet, den Charme des Romans aus.
Amy Brill hat Hannah Price im übrigen in freier Anlehnung an eine historische Persönlichkeit geformt. Maria Mitchell (1818-1889) wurde in Nantucket geboren; ihr Vater förderte ihre außergewöhnlichen mathematisch-naturwissenschaftlichen Begabungen und ihr Interesse für die Astronomie. 1847 entdeckte sie den Mitchell-Kometen und erhielt den Orden des dänischen Königs. Als erste Frau wurde sie 1848 in die American Academy of Arts and Sciences aufgenommen und trat, ebenfalls als erste Frau, 1865 eine Professur für Astronomie und Physik am renommierten Vassar College an, wo sie sich für die Gleichberechtigung der Frauen im Wissenschaftsbetrieb einsetzte. 1905 wurde sie in die Hall of Fame for Great Americans aufgenommen. Amy Brill hat die Insel Nantucket und Maria Mitchells Wohnhaus besucht, ihre Aufzeichnungen und Berichte studiert und in den Archiven recherchiert, jedoch den Charakter, die Biografie und auch Jahreszahlen modifiziert. Doch die in die Romanhandlung aufgenommenen Tagebucheinträge (kursiv gedruckt) »entsprechen denen von Maria Mitchell«.
»Die Frau, die Sterne fing« ist gute, solide Unterhaltungslektüre, unsentimental, historisch aufschlussreich und mit leicht verständlich aufbereiteten wissenschaftlichen Grundlagen.