Rezension zu »Der Feind meines Vaters« von Almudena Grandes

Der Feind meines Vaters

von


Belletristik · Hanser · · Gebunden · 400 S. · ISBN 9783446241251
Sprache: de · Herkunft: es

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Der Polizist als Terrorist

Rezension vom 26.04.2013 · 18 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Polizist – das ist der Beruf, den Ninos Vater ausübt und den er auch seinem neunjährigen Sohn ans Herz legt, bietet er doch eine sichere und einträgliche Laufbahn. Doch Nino wird diesen Weg nicht einschlagen. Zum Leidwesen seines Vaters wächst er nur sehr langsam (man nennt ihn deshalb auch »Knirps«) und wird aller Vor­aus­sicht nach nicht die Auf­nahme­be­din­gungen erfüllen. Vor allem aber gewinnt Nino Einsichten in die Praktiken und Funktionen des Berufs, die ihn für immer abschrecken werden.

Denn der Schauplatz ist ein kleines andalusisches Bergdorf in der Nähe von Jaén, und es sind die Jahre 1947 bis 1949. Der zweite Weltkrieg ist zwar vorbei, aber hier in Spanien herrscht noch immer das faschis­tische Regime des Diktators Francisco Franco, und die Polizei – die Guardia Civil – steht ganz zu seinen Diensten. Um Francos Macht zu sichern, hat sie hier in der Sierra viel zu tun. In den Bergen halten sich seine Gegner versteckt: Anhänger der im Bürgerkrieg (1936-1939) untergegangenen Republik, Demokra­ten, Kommunisten, Anarchisten, Rebellen und Partisanen, alle zusammen des schlichten Feindbildes halber als »die Roten« subsumiert, sammeln hier Kräfte und Ideen und planen kämpferische Aktionen.

Nino, der Ich-Erzähler, wohnt mit seiner Familie in der Guardia-Civil-Kaserne von Fuensanta de Martos. Wenn er nachts in seinem Bett liegt, hört er, was auf der anderen Seite seiner Wand geschieht: heftiges Getöse, gellende Schmerzensschreie, geprügelte Körper schlagen gegen Mauern, stürzen zu Boden. Dann kuschelt sich seine kleine Schwester Pepa (4) voller Angst zu ihm ins Bett; das sei nur ein Film, beruhigt der Bruder, und zusammen singen sie gegen den Horror an.

Was die Kinder wahrnehmen, ist nichts für Kinder. Es ist das Leid von Häftlingen; es sind Folterungen, Vergewaltigungen, Erschießungen, ausgeführt von Tätern in der Uniform, die auch der Vater trägt und vielen im Land verhasst ist. Auch der Vater ist einer von denen, die Razzien im Dorf durchführen, die »Nachbarn verhaften und in Handschellen durch die Straße führen«, die in die Berge ausrücken, um Wider­standskämpfer in ihren Höhlen aufzuspüren und möglichst auf der Flucht hinterrücks zu erschießen. Dafür verabscheut Nino seinen Vater; niemals will er so einer sein, und niemals wird er zur Guardia Civil gehen.

Nino will »Rennwagen fahren … oder wie Pepe, der Portugiese, leben«. Pepe ist 29 und hat gerade die Mühle gemietet, um sich dort um die Olivenbäume zu kümmern. Da die Dorfkinder nicht gern mit Nino spielen, wendet der sich lieber dem Mann zu. So richtig schlau wird er allerdings nicht aus seinem neuen Freund, denn Pepe ist verschlossen und etwas geheimnisvoll. Er behauptet zum Beispiel, kaum lesen und schreiben zu können, aber Nino hat durchs Fenster beobachtet, wie er in einem Buch liest.

Auch Vater und sein Kollege interessieren sich für Pepe. Sie besuchen ihn ebenso wie alle anderen, die außer­halb des Dorfes wohnen, jede Woche und befragen ihn, ob er auf den Wegen zu den Bergen Auffälli­ges beobachtet habe – »Spuren oder Veränderungen, Reste von Lagerfeuern «. Man vermutet nämlich, dass »Cencerro« ganz in der Nähe einen Stützpunkt unterhalte. »Cencerro« (»Kuhglocke«) war eigentlich der Spitzname des im Volk verehrten Freiheitskämpfers Tomás Villén Roldán, der sich vor kurzem seinen Häschern durch Selbstmord entzogen hatte. Doch nun übernehmen mutige Guerilleros in den Bergen den symbolträchtigen Namen, um den Helden und seine Ideen umso kraftvoller weiterleben zu lassen. Zuletzt hatte »Cencerro« ganz nach Robin-Hood-Art auf offener Straße einen Bürgermeister ausgeraubt, ver­schenkte einen kleinen Teil der Beute an einen Armen und verbreitet jetzt signierte Geldscheine (»So zahlt Cencerro«), um sich über das Regime lustig zu machen.

Nicht nur in der Schenke spürt jeder die feindselige Stimmung gegen die Guardia Civil. Die Dörfler decken die »Roten« (»Berg und Tal atmeten im selben Takt, dieselbe Luft«) und geben ihnen damit einen gewissen Grad an Sicherheit für ihre Operationen. Nachts zieht es die Männer sogar aus ihren Verstecken herunter zu ihren Frauen in den Dörfern. Wenn eine von ihnen schwanger wird, schweigen alle eisern. Irgendwann, so muss man stets befürchten, wird der Moment kommen, wo einer die Rechnung für all die bitteren Possen bezahlen muss.

Pepe öffnet Nino, dem er stets respektvoll begegnet, eine ihm bisher unbekannte Welt. Der Junge lernt, was Wertschätzung, Partnerschaft, Solidarität und Vertrauen bedeuten und dass »Sorge … das sicherste Indiz für Freundschaft und Zuneigung war«; der Mann gibt Nino Orientierung, was richtig und was falsch ist und wofür es sich zu leben lohnt.

Ebenso großen Anteil an Ninos Reifung hat seine Lehrerin Doña Elena. Sie unterrichtet ihn nicht nur in Schreibmaschineschreiben und Stenographie, sondern erschließt ihm einen großen Schatz: ihre Bibliothek. Nino begeistert sich vor allem für Jules Vernes Abenteuerromane (daher der Originaltitel »El lector de Julio Verne« Almudena Grandes: »El lector de Julio Verne« bei Amazon ). Deren Helden beeindrucken ihn und werden zu Leitfiguren; die Lektüre lässt den Jungen aber auch für kurze Zeit vergessen, welche Grausamkeiten um ihn herum verübt werden.

Almudena Grandes’ Roman »Der Feind meines Vaters« hat, wie die Autorin in einem Nachwort ausführt, historische Figuren als Hintergrund. Diese realen Vorgaben hat sie jedoch stark erweitert und sehr breit ausgearbeitet. Einerseits lesen wir einen Abenteuerroman – die Geschichte eines vogelfreien Rebellen, den niemand zu fassen bekommt, obwohl ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt wurde. Andererseits handelt es sich um einen Entwicklungsroman – ein vorpubertärer Junge lernt, was Leben ist.

Das wichtigste Anliegen der Autorin, die in ihrer Heimat laut Standardpressetext als »militante Muse« der Linken bezeichnet wurde, ist jedoch die politisch-historische Auseinandersetzung mit der in Spanien bis heute kaum aufgearbeiteten Franco-Ära, die erst mit dem Tod des Diktators im Jahr 1975 ein Ende fand. Für ihre bittere Anklage und die Verdeutlichung der grausamen und verbrecherischen Methoden im Namen Francos konzentriert sie die Handlung auf ein überschaubares, eigentlich idyllisches Dorf und reduziert die Perspektive auf die des feinfühligen, begabten Jungen: »So war es in meinem Dorf, in dem man jede Nacht hinterrücks erschossen werden konnte, weil man seinem Kind, seinem Vater, seinem Bruder etwas zu essen gegeben hatte.«

Trotz dieser konzeptuellen Begrenzung gelingt es Almudena Grandes, ein differenziertes Szenario zu ent­wickeln. Denn sie verschweigt nicht das unterschwellige Böse in der Gemeinde, die Denunziationen der Verräter, die stillschweigende Hilfe der Kooperateure. Sie sind nicht weniger erschütternd und verwerflich als die offen sichtbaren Taten der Machthaber und ihrer ausführenden Organe. Manche von ihnen leiden unter dem Zwang, Befehle ausführen zu müssen, weil ihnen und ihren Familien andernfalls schlimmste Repressalien drohen. Aus einem solchen inneren Zwiespalt befreit sich eine Person, der man ihre Rolle als verdeckt Agierende der Gegenseite niemals zugetraut hätte, auf dramatische Weise. Die anschließende Beisetzung mit allen Ehren – einer Zeremonie, in der sich der Machtapparat keine Blöße gibt – lässt einen zu Eis gefrieren.

»Der Feind meines Vaters« ist ein aufwühlender Roman voller starker Gefühle (»Eine ganze Welt voller Liebe und Hass, Schmerz und Groll, Schwäche und Stärke, Verzweiflung, Überzeugung, Glaube und Rache« spiegelt sich in den versteinerten Augen der Mutter eines Erschossenen.). Almudena Grandes’ Sprache (die Roberto de Hollanda aus dem Spanischen übersetzt hat) ist kraftvoll, komplex und reich. Schöne poetische Textpassagen (»dann pfiff von den Bergen ein feiner, grausamer Wind, so hell wie Glas«) lassen uns beim Lesen innehalten; manche schmerzen oder beschämen geradezu, zum Beispiel als Ninos Mutter dem Jungen in den bitterkalten Winterzeiten eine Wärmflasche für die Schule schenkt – eine Sprudel-Pfandflasche eingewickelt in einen selbstgenähten Beutel – und er sein »wildes Glücksgefühl« darüber nicht in Worte fassen kann.

Zum Abschluss soll nicht unerwähnt bleiben, dass die Fülle der ausgebreiteten Episoden und die Vielzahl der Figuren mit ihren Namen inklusive Bei- und Spitznamen (von der Autorin nach eigenem Bekunden mit großer Sorgfalt authentisch gestaltet) zusammen mit dem meist komplexen Satzbau konzentriertes Lesen erfordern.


Der sechsteilige Romanzyklus »Episoden aus einem endlosen Krieg« von Almudena Grandes (aktualisiert im November 2021):

  1. »Inés y la alegría« Almudena Grandes: »Inés y la alegría« bei Amazon (2010)
    »Inés und die Freude« Almudena Grandes: »Inés und die Freude« bei Amazon (2014; Übersetzung: Roberto de Hollanda)
    [Lesen Sie hier meine Rezension.]
  2. »El lector de Julio Verne« Almudena Grandes: »El lector de Julio Verne« bei Amazon (2012)
    »Der Feind meines Vaters« (2013; Übersetzung: Roberto de Hollanda)
  3. »Las tres bodas de Manolita« Almudena Grandes: »Las tres bodas de Manolita« bei Amazon (2014)
  4. »Los pacientes del doctor García« Almudena Grandes: »Los pacientes del doctor García« bei Amazon (2017)
  5. »La madre de Frankenstein« Almudena Grandes: »La madre de Frankenstein« bei Amazon (2020)
  6. »Mariano en el Bidasoa« (voraussichtlich 2022)

Weitere Artikel zu Büchern von Almudena Grandes bei Bücher Rezensionen:

Rezension zu »Inés und die Freude«

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»Der Feind meines Vaters« von Almudena Grandes
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