Das schwarze Herz
Die neunjährige Lilly lebt auf dem Schweizer Napf zwischen Bern und Luzern, der eine natürliche Grenze zwischen Katholizismus und Protestantismus bildet. Lilly ist ein aufgewecktes Mädchen, das ihr Umfeld genauestens beobachtet, aber an ihren eigenen Problemen seelisch fast zugrunde geht. Warum schläft sie in der Schule immer wieder kurzzeitig ein? Ihre Nächte sind voller Albträume, der Bruder Res holt sie ins Bad, um sich von ihr streicheln zu lassen, und auch ihre Schwester Dora fordert es von ihr, wenn sie es nicht selber tut. Doch bei all diesen missbräuchlichen Tätigkeiten ist immer die kleine Schwester die moralisch Schlechte – deswegen schneiden sie die Geschwister und würdigen sie keines Blickes. Wenn denn wenigstens ihre Mutter sie lieben würde oder ihr Vater sein Schweigen brechen könnte, dann könnte sie sich ihnen anvertrauen. Stattdessen hält sie selbst ihre Verletzung geheim: Ihre Schreibfeder mit schwarzer Tinte war ihr so unglücklich in den Arm gestoßen, dass sie nur mit Mühe herausgezogen werden konnte. Jetzt entzündet sich die Wunde immer schlimmer. Schon der Großvater war an einer Blutvergiftung gestorben; droht ihr nun das gleiche Schicksal?
Beständig lebt Lilly in Angst, besonders vor ihrer Mutter. Die steht vor der Haustür, wenn sie von der Schule kommt. Lilly wagt die Schwelle nicht zu betreten – und schon ist es passiert. Bis 13 zählt sie, dann hat sie sich vollständig benässt; erst fließt es warm die Beine hinab, dann wird es kalt, und die Mutter verprügelt sie. Wenn Lilly erneut bei 13 angekommen ist, hat sie das Martyrium überstanden. Dann verkriecht sie sich unter ihr Stoffrestezelt, denn zu essen gibt es natürlich nichts für sie.
Alice Schmidt hat in ihrem Roman "Dreizehn ist meine Zahl" ein Kinderleben in den fünfziger Jahren beschrieben, und diese Geschehnisse wirken besonders eindringlich, weil Lilly sie selber erzählt. Der Sprachstil trägt deutlich schweizerische Züge. Zwar bietet ein kleines Glossar dem Leser Übersetzungen und Verständnishilfen, aber trotzdem mögen sich manche Textpassagen dem norddeutschen Leser nicht sofort erschließen. Einfache Aussagesätze kommen der kindlichen Sprache nahe, aber Lillys Reflexionen, die gedanklich und auch syntaktisch komplex sind, vermag ein Kind ihres Alters kaum zu formulieren; hier greift also die Autorin helfend ein und hebt den Roman – den kleinen Stilbruch hinnehmend – über die Begrenzungen des Kinderbuch-Niveaus hinweg.
So schauen wir in eine archaische Welt. In der kargen, unwegsamen Gegend leben die Menschen voller Armut und abgeschottet von der Zivilisation. Manchmal fährt ein Bus vor, dessen Fahrer Material für die Heimarbeit der Frauen bringt. Mit der Landwirtschaft allein können die Väter ihre Familien nicht ernähren, so arbeiten sie nebenher als Köhler oder Schnapsbrenner. Lilly und ihre Freunde vertrauen ihre Sorgen und Nöte einer Linde an. Dabei hört Lilly schreckliche Geständnisse. Beim Pfarrer finden die Kinder keine Hilfe – im Gegenteil, mit seinen bigotten Moralvorstellungen, seinen Warnungen vor Aberglauben und Geistern vergrößert er noch ihre Angst. Zu Hause gilt Lilly als Lügnerin und Diebin; dabei war es ihre Schwester, die das hart erarbeitete Geld an eine Fremde gegeben hatte. Doch sie kennt Lillys Geheimnis, und so muss Lilly wieder schweigen und die Prügel ertragen. Ihr Herz ist schwarz, urteilt Mutter; da hilft nur noch Beten.
Lilly ist ein gänzlich verstörtes Kind. Ausgenutzt und abgeschottet, ahnt sie nur, dass in ihrer Umwelt vieles nicht zusammenpasst, dass doch nicht sie allein alle Schuld tragen kann. Die Bösen sind vielmehr die Erwachsenen, die ihre Kinder wie Dreck behandeln und, wie der passive, schweigsame Vater, grausame Geheimnisse hüten. Um nicht dem Wahnsinn zu verfallen und ihre Seele nicht zu verlieren, schottet sich Lilly in ihrem Zelt ab und flüchtet in ihre Träume. Die Zahl 13, für alle anderen eine Unglückszahl, gibt ihr Halt und hilft ihr, alle Qualen zu ertragen.
Dies ist ein Heimatroman weitab von jeder Idylle der berauschenden "Schwyzer" Bergwelt. "Heidi", das romantisierende Echo aus meinen Kindertagen, klingt nirgendwo. Das Buch lässt den Leser traurig zurück. Man hat Lilly liebgewonnen, muss jedoch ihrem Leid hilflos zuschauen.
Für "Dreizehn ist meine Zahl" erhielt Alice Schmid 2010 den Hauptpreis der Zentralschweizer Literaturförderung.