Träumen mit Emily
Nur noch wenige Tage wird Emily in Hollyhill, dem kleinen Dorf in den sanften Hügeln von Dartmoor, verbringen, dann muss sie ihr Flugzeug zurück nach München besteigen. Oder soll sie noch hier im Südwesten Englands bleiben, ihre Entscheidung einfach über den Haufen werfen? Was sie zaudern lässt, ist Matt, in den sie sich verliebt und der sie kürzlich geküsst hat. Gern hätte sie ein klares Zeichen von ihm, doch er wirkt so fremd und entfernt sich immer mehr von ihr, anstatt ihre Nähe zu suchen ...
Im Übrigen ist ganz Hollyhill in Aufruhr. Zwei neue Bewohner sind eingetroffen, die man mit einer Willkommensparty in die Dorfgemeinschaft aufnehmen möchte. Das Fest ist eine wundervolle Inszenierung unter Apfelbäumen, die Emily an die Teegesellschaft aus »Alice im Wunderland« erinnert. An einer langen Holztafel sind alle Dörfler versammelt: Pub-Besitzer Adam; Pfarrer Harry; die alte Martha-May, die den Kramerladen führt; der kreativ-enthusiastische Joe, der nicht nur seine Freundin Silly, sondern alle Einwohner (nicht zu jedermanns Freude) mit seinen eigenwilligen Gewändern kostümiert; Emilys Großmutter Rose; Josh und – für Emily die wichtigste Person – sein Bruder Matt ...
Am Kopfende thront Cullum, der Neue. Mit seinem Zylinder und katzengleich stechenden grünen Augen übt der junge Mann eine seltsame Faszination auf Emily aus, »Grinsekatze und verrückter Hutmacher zugleich.« Seine Schwester Chloe – makellose, zart durchscheinende, verletzlich wirkende Haut, kalt funkelnde Augen wie die ihres Bruders – offenbart gleich bei der ersten Begegnung mit Emily einen unschönen Charakter. »Was auch immer ihr Kellnerinnen heutzutage lernt ... Servieren gehört offensichtlich nicht dazu«, rümpft sie herablassend die Nase.
Dass die arrogante Chloe und Matt irgend etwas verbindet, spürt Emily sogleich. Doch ehe die gegenseitige Abneigung – ist es Eifersucht? – offen ausbrechen kann, überschlagen sich die äußeren Ereignisse. Ein Sturm bricht los, der Boden bebt, das ganze Dorf dreht sich wie ein Kreisel ... Als der Ort langsam wieder zur Ruhe kommt, flackert in den Straßenlaternen Gaslicht auf, statt auf sicherem Kopfsteinpflaster zu laufen, versinkt man auf schlammigen Wegen im Novembermatsch, und eine Kutsche fährt vor. Hollyhill ist in das Jahr 1811 zurückgefallen, und seinen Bewohnern steht ein großes Abenteuer bevor ...
Was hat es mit dieser merkwürdigen kleinen Ortschaft auf sich? Hier lebt eine besondere Gemeinschaft von Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten zusammen. Sie sind sogenannte Zeitreisende, die »weder alterten noch besiegbar schienen«. Einst gehörte auch Emilys Mutter Esther dazu. Aber in den Achtziger Jahren verließ sie ihre Heimat, um einen ganz normalen Mann ohne mystische Eigenschaften zu heiraten. Als ihre gemeinsame Tochter Emily vier Jahre alt war, kamen die Eltern bei einem Autounfall ums Leben, und seither kümmert sich die Mutter des Vaters, die in München wohnt, liebevoll um das kleine Mädchen.
Alle Einzelheiten der familiären Hintergründe und auf welch wundersame Weise die Protagonistin Emily in Hollyhill landete, erfährt man, wenn man »Zurück nach Hollyhill« liest, den erfolgreichen ersten Band (im Februar 2013 erschienen) der Jugendbuch-Serie aus der Feder der fantasiebegabten Autorin Alexandra Pilz. Das Wesentliche zum Verständnis ahnt man freilich auch im Laufe des zweiten Bandes, dessen Andeutungen völlig ausreichen, um »Verliebt in Hollyhill« als in sich geschlossene Romanhandlung genießen zu können.
Die liebenswerten Dorfbewohner, einerseits Menschen wie du und ich, andererseits magisch idealisiert, schwärmen aus, um das Geheimnis der Kutsche und ihrer unbekannten Lenkerin, die entsetzliche Würgemale um ihren Hals trägt, zu ergründen. Zugleich lässt Alexandra Pilz ihre Fans in die (romantisch verklärte) englische Vergangenheit zu Zeiten Jane Austens eintauchen, wo sie das Leben auf einem feinen Landgut kennenlernen. Emily wird hier zu einer kleinen Dienstmagd und muss sich den engen und starren Regeln der Klassengesellschaft unterordnen.
»Verliebt in Hollyhill« bietet seiner Leserschaft (weiblich, ab zwölf bis vierzehn Jahre) einen schön beschreibenden und eingängig erzählenden Sprachstil, der zu Identifikation und zum Träumen einlädt. Das Erfolgsrezept der Reihe beruht auf gleich fünf wirksicheren Zutaten, die die Autorin perfekt zubereitet und kombiniert. Ein Krimiplot erzeugt Spannung; die zarte, sich immer im Hintergrund haltende Liebesgeschichte zwischen Matt und Emily sorgt für Romantik; das tonangebende Personal aus lauter Jugendlichen zwischen ungefähr fünfzehn und siebzehn Jahren erlaubt es, sich schon etwas älter zu fühlen; die Fantasy-Welt der zeitreisenden Abenteurer und die Bezüge zu »Alice im Wunderland« öffnen märchenhafte Dimensionen; die Historisierung entrückt das Ganze in eine ferne Vergangenheit, die nicht besser ist als die unsere, aber ordentlich gefiltert präsentiert werden kann.
Auch wenn die Machart für Erwachsene maßgeschneidert und durchschaubar ist: Das Leseerlebnis für junge Leserinnen ist eindrucksvoll und nachhaltig, und es bleiben jede Menge offene Fragen, um sich auszumalen, wie alles weitergehen könnte. Der Epilog deutet eine Richtung an: Fee, Emilys Freundin aus München, wird die Spielkarten und ihre Figuren neu aufmischen. Es geht weiter mit Hollyhill.