Léon zwischen Louise und Yvonne
Der Roman »Léon und Louise« beginnt mit dem Trauergottesdienst in Notre Dame. Schon in dieser Beschreibung spürt man die humorvolle und gleichzeitig melancholische Stimmung, die den ganzen Roman bestimmt. Léon, ein Pfaffenverächter, hatte schon lange verkündet, er möchte eine Totenmesse in Notre Dame mit allem Brimborium: lateinische Liturgie, viel Weihrauch und gregorianische Choräle. So sitzen alle seine Lieben zusammen, als sich etwas verspätet die Tür öffnet. Eine kleine, graue Gestalt mit leuchtend rotem Foulard und schwarzem Hütchen mit Schleier trippelt zielstrebig auf den offenen Sarg zu, um Léon auf die Stirn zu küssen. Aus ihrer Handtasche zieht die Frau eine Fahrradklingel, betätigt sie zweimal und legt sie anschließend in den Sarg. Dann strebt sie klackenden Schrittes dem Ausgang zu. Viel Getuschel – dabei weiß jeder, um wen es sich bei dieser Dame handelt: Louise Janvier.
Sie und Léon hatten sich im Kriegsjahr 1915 in einem französischen Dorf in der Normandie kennengelernt, wo Léon bei der Bahn arbeitete. Das Stellenvermittlungsamt hatte Louise dorthin geschickt, um eine Anstellung beim Bürgermeister anzutreten. Sie muss z.B. den Hinterbliebenen die traurigen Nachrichten vom »Heldentod« ihrer Liebsten überbringen. Dabei ist sie auf einem reparaturbedürftigen, quietschenden Fahrrad unterwegs. Aus jener Zeit stammt die Fahrradklingel, die ihr Léon einstmals anbrachte – und damit begann die zarte Liebesgeschichte. Doch ganz schnell nimmt sie auch ihr Ende, denn als sie einmal mit dem Fahrrad unterwegs sind, werden sie während eines Fliegerangriffs schwer verwundet und getrennt.
Sie suchen einander, aber niemand kann helfen. Vielleicht ist der andere ja gestorben? Léon geht nach Paris, findet in Yvonne eine bewundernswerte Frau, heiratet, bekommt vier Kinder mit ihr.
Zehn Jahre später begegnen Léon und Louise einander zufällig in der Metro. Léon arbeitet mittlerweile als Chemiker mit dem Spezialgebiet Giftmorde für die Polizei. Louise ist Tipp-Mamsell in der Nationalbank. Doch ihr Leben soll so bleiben, wie es ist. Man wird sich nicht wiedersehen, und keiner lauert dem anderen auf – das ist Louises klare Ansage.
Die Deutschen marschieren in Paris ein. In der Metropole geht es ruhiger zu als erwartet. Selbst Flüchtlinge kehren zurück. Die französische Polizei wird von der SS übernommen, und Knochen, der Chef der Sicherheitspolizei, beaufsichtigt Léons Tätigkeit. Er muss stark beschädigte Karteikarten neu schreiben. Leider sind 73% seiner Kopien fehlerhaft – ein bisschen viel ... Sabotage? Knochen setzt ihn unter Druck, doch mit Gleichmut und Freundlichkeit bietet ihm Léon keine Angriffsfläche. So überlebt Léons Familie in Paris, während es Louise nach Französisch-Westafrika verschlägt.
Ein wunderbarer Roman, der eine außergewöhnliche Beziehung zwischen drei Menschen beschreibt. Léon, Louise und Yvonne gehen mit viel Feingefühl, Toleranz und Anstand miteinander um. Obwohl Léon keinen Tag vergehen lässt, ohne an Louise zu denken, würde der zurückhaltende, gute Familienvater sich nie scheiden lassen. Louise, eine herzerfrischende, temperamentvolle, hübsche Frau, will ihre Liebe zu Léon nicht einfordern. Sie respektiert die Lebensumstände und schätzt Yvonne. Diese wiederum weiß genau um die Gefühle ihres Mannes zu Louise; nichts ist vor ihr geheim. Aber sie würde ihrem Mann nie eine Szene machen. Zu allen Zeiten hat sie alles gegeben, als kapriziöse Diva, kecke Braut, selbstlos kämpfende Löwin in den harten Kriegsjahren. Léon und Yvonne sind ein starkes, gefestigtes Ehepaar voll tiefer gegenseitiger Zuneigung und innigem Vertrauen. So können sich sich zugestehen, den anderen in Frieden seiner Wege gehen zu lassen.
Alex Capus überzeugt durch sein Einfühlungsvermögen, seine Poesie, seine Melancholie, die gebrochen wird durch manch humorvolle Beschreibungen.