Besser allein als in schlechter Gesellschaft: Meine eigensinnige Tante
von Adriana Altaras
Die Geschichte einer bemerkenswerten alten Dame, deren Lebensplanung zwar ganz anders verlief, als sie es sich vorgestellt und gewünscht hatte, die sich aber dennoch niemals unterkriegen ließ. Erzählt wird sie voller Sympathie, Bewunderung und Witz von ihrer Nichte, der sie Vertrauensperson und Vorbild wurde.
Die Kunst, sein Leben zu leben
Die Verfasserin dieses Buches ist nicht nur ungewöhnlich vielseitig begabt, sondern hat auch eine bemerkenswerte Vita. Adriana Altaras wurde 1960 im damals jugoslawischen Zagreb geboren, wo die Familie eine Glasmanufaktur betrieb. Als die Eltern Thea und Jakob vier Jahre später nach politischen Konflikten und antisemitischen Sanktionen ins Ausland fliehen mussten, kamen die italienischen Verwandten Tante Jelka (Theas vier Jahre ältere Schwester) und Onkel Giorgio, versteckten das Mädchen in ihrem Kleinwagen, schmuggelten es zu sich nach Mantua und betreuten es, bis es 1967 mit den Eltern nach Deutschland zog. Nach dem Abitur studierte Adriana Schauspielerei in Berlin und New York und bewährte sich danach als Schauspielerin, Regisseurin, Autorin und Theatergründerin in Berlin, Stuttgart, Konstanz und Basel sowie in Filmrollen. Zahlreiche Auszeichnungen sprechen für die Qualität ihrer Leistungen.
In den wenigen, aber prägenden Jahren in Mantua wurde Tante Jelka ihrer Nichte zur fürsorglichen, liebenden (Ersatz-) Mutter und stand ihr auch später in allen seelischen Nöten bei. Adriana besuchte sie häufig, auch in Begleitung ihrer Abschlussklasse und wechselnder Partner. Wenn sie von allzu großen Sorgen gequält wurde, kochte Jelka ihr Pasta – nach dem Motto »Ein Leben lang mittags Pasta und man überlebt alles«.
Seit 2010 veröffentlicht Adriana Altaras erfolgreiche Romane mit dem Hintergrund ihres jüdischen Familienkreises. Bereits in ihrem Bestseller »Titos Brille. Die Geschichte meiner strapaziösen Familie« spielte Tante Jelka eine Nebenrolle, und ihr jüngstes Werk ist nun vollständig der »eigensinnigen Tante« gewidmet. Die Autorin schildert darin in einer wunderbar leicht dahinfließenden Mischung aus Herzblut, einem melancholischen Grundton und viel originellem Witz, wie ihre ungewöhnliche Titelheldin sie in besonderer Weise geprägt hat, bis sie im hohen Alter von 101 Jahren in einem Altenheim bei Mantua starb.
Mit Adrianas Umzug nach Gießen und der Rückkehr zu ihren Eltern wurde sie freilich erst einmal einem anderen Erziehungsstil konfrontiert. Der Ballettunterricht, den Tante Jelka ihrem kleinen Gast gegönnt hatte, war für Mutter Thea nicht die richtige Vorbereitung auf die Härten des feindlichen Lebens. Sie schickte ihre Tochter auf ein Mädchen-Internat, wo Kampfsport die unterrichtsfreien Nachmittage füllte. Adriana war dort untröstlich und hegte beständig Pläne einer Flucht gen Italien. Die Unterschiede zwischen den beiden ungleichen Schwestern – Thea war Feministin, Kommunistin und glühende Verehrerin ihres Helden Tito, Jelka schwärmte für Berlusconi – brachen hervor und belasteten Adriana.
Die Erzählung beginnt in einer schlimmen Zeit im Frühjahr 2020. Die Angst vor dem Corona-Virus hat die Welt im Griff, und die Regierungen glauben, ihre Bürger vor Ansteckungen schützen zu können, indem sie ihre Ängste noch befeuern (wobei »die Bilder von Bergamo« eine prominent unrühmliche Rolle spielen) und ihren gewohnten eigenverantwortlich geführten Alltag bis in nicht mehr nachvollziehbare Details einschränken.
In Mantua, nahe bei Bergamo, wohnt Tante Jelka im Altenheim »Villa Paradiso«, doch für sie ist es das Gegenteil dessen, was der Name verspricht. Sie fühlt sich behandelt, als wäre sie debil, und aus der Kantine kommt laues Essen. In der Corona-Zeit ist die »Casa di cura« ein von der Außenwelt abgeschottetes »Totenhaus«, in dessen Erdgeschoss sich die wenigen Gesunden aufhalten, die »von der Malattia verschont geblieben« sind. Nach einem Oberschenkelhalsbruch ist die alte Dame vollends auf andere angewiesen, zwangsinterniert, darf Haus und Zimmer nicht verlassen und keinen Besuch empfangen. Und all das, nachdem sie ein ausgesprochen selbstbestimmtes Leben geführt und wahre Höllen wie die Spanische Grippe und ein kroatisches KZ durchlebt hat.
Mehrfach hatte Adriana, die gerade als Opernregisseurin in Berlin arbeitet, der Tante vorgeschlagen, sie nach Berlin in ein schönes Heim zu holen, wo sie sie öfter besuchen könnte, doch Jelka hat alle Vorstöße kategorisch abgelehnt: »›Magari, schön wär’s, aber lass es uns ein andermal besprechen.‹ Das jüdische Altersheim ist ihr zu russisch, im deutschen Heim fehlen ihr die Juden. Kochen tun alle schlechter als die Italiener, und so vergeht die Zeit.« Jetzt sind der Nichte jegliche Besuche verboten, nicht einmal den einhundertsten Geburtstag darf man miteinander feiern. Dabei ist auch Adriana psychisch schwer angeschlagen, nachdem ihr Mann sie nach dreißig Ehejahren verlassen hat und sie ihren sechzigsten Geburtstag ganz unspektakulär begehen musste.
Als einzige Kontaktmöglichkeit sind Telefon oder das neumodische Skypen verblieben. Obwohl die Tante damit umzugehen weiß, versteht sie die Welt da draußen nicht mehr: »Artificial Intelligence«, »Work-Life-Balance« und »Sharing« – »geht wohl nur auf Englisch«. Auch das diffiziler gewordene Verhältnis zwischen den Geschlechtern macht ihr zu schaffen, insbesondere hinsichtlich Adriana: Unter Milliarden Männern, meint sie, müsse es doch auch für sie einen passenden geben. Wie immer hat »Zia« eine Fülle teils verrückter Ideen im Kopf und Lebensweisheiten auf den Lippen, wie auch die titelgebende (»Meglio soli, che mal accompagnati«). Der entscheidungsschwachen Nichte empfiehlt sie, eine Therapeutin, später eine Kartenleserin aufzusuchen, schließlich die teure App eines jüdischen Datingportals zu installieren. Doch »die Prinzessin auf der Erbse ist eine entspannte Person neben den Ansprüchen meiner Nichte.«
Der langsam einsetzende geistige Verfall ihrer geliebten »Zietta« (»Tantchen«) und die Verengung ihrer Persönlichkeit besorgen Adriana. Die stets weltoffene Dame klagt nun über das Böse in den Menschen, behauptet, überall hockten noch immer Faschisten, und jeder im Altenheim wolle sie bestehlen. Doch ihre Vorkehrungen – alles wegzuschließen, Zettel mit entsetzlichen Drohungen anzubringen – können ihr nicht helfen: Pullover und Amulette verschwinden ebenso wie Schlüssel, und die Verängstigung nimmt zu.
Adriana Altaras Roman ist ein Buch des ausgeprägten Individualismus. Es thematisiert, wie seine Erzählerin und ihre um einige Jahre ältere Protagonistin mit dem Älterwerden, mit der Einsamkeit, mit Schicksalsschlägen umgehen. Beider Leben hätte anders verlaufen sollen, als sie es geplant hatten und lange Zeit durchaus gesichert glaubten. Bei der Tante hat der entsetzliche Krieg »alles geprägt. Alles, was danach kam, war das Gegenteil von dem, was ich mir vorgestellt hatte«, aber auch die Nichte musste damit fertigwerden, dass ihr Mann sie nach dreißig Ehejahren verließ und sie mit den Ängsten vor dem Alter und dem Alleinsein zurückblieb. Die Tante (deren Ehe auch keine glückliche war) ist ihre engste Bezugsperson, der sie ihre Sorgen und Nöte anvertrauen kann, und diese versucht mit Empathie zu helfen, zu trösten, Mut zum Leben zurückzubringen, sie mit einem Lachen aus dem Teufelskreis ihrer selbstquälerischen Fragen zu befreien, während sie altersbedingt selbst an die Grenzen ihrer Selbstbestimmung stößt. Fast bis zu ihrem Tod dient sie der Nichte als Vorbild: Sie weiß sich zu helfen, schwimmt täglich, behält ihren starken Willen, ihre Launen, ihren Optimismus und ihre Lebenslust.
Die Autorin ist eine überzeugende Erzählerin. Mit sicherem Gespür findet sie die richtigen Worte – warmherzige, zärtliche, humorvolle (jüdische Witze inklusive) – und rückt abwechselnd die Perspektiven der beiden Verwandten in den Vordergrund. Während sie räumlich teils nah, teils fern von einander leben, sind ihre Seelen stets eng verbunden. Biografisches und Fiktionales fließen störungsfrei ineinander, und der Erzählfluss darf seinen Lauf ohne jegliche Rücksicht auf die chronologische Abfolge der Ereignisse nehmen. So stehen prägende Erlebnisse aus unterschiedlichsten historischen Epochen nebeneinander. Obwohl Tante Jelka ein ganzes Jahrhundert mit Krieg, Verfolgung und KZ-Internierung durch- und überlebt hat, konnte sie sich eine großbürgerliche »stoische Haltung und Grandezza« bewahren. Als feine Dame steht sie über modischen Tendenzen, »trägt Cashmere und Schottenröcke« und will nicht einmal im »Totenhaus« auf ihre teure »Shiseido-Creme« verzichten.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Sommer 2023 aufgenommen.