Rezension zu »Besser allein als in schlechter Gesellschaft: Meine eigensinnige Tante« von Adriana Altaras

Besser allein als in schlechter Gesellschaft: Meine eigensinnige Tante

von


Die Geschichte einer bemerkenswerten alten Dame, deren Lebensplanung zwar ganz anders verlief, als sie es sich vorgestellt und gewünscht hatte, die sich aber dennoch niemals unterkriegen ließ. Erzählt wird sie voller Sympathie, Bewunderung und Witz von ihrer Nichte, der sie Vertrauensperson und Vorbild wurde.
Belletristik · Kiepenheuer & Witsch · · 240 S. · ISBN 9783462004243
Sprache: de · Herkunft: de

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Die Kunst, sein Leben zu leben

Rezension vom 04.10.2023 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Die Verfasserin dieses Buches ist nicht nur unge­wöhn­lich vielseitig begabt, sondern hat auch eine bemer­kens­werte Vita. Adriana Altaras wurde 1960 im damals jugo­slawi­schen Zagreb geboren, wo die Familie eine Glas­manu­faktur betrieb. Als die Eltern Thea und Jakob vier Jahre später nach politi­schen Kon­flikten und anti­semiti­schen Sank­tionen ins Ausland fliehen mussten, kamen die italieni­schen Ver­wandten Tante Jelka (Theas vier Jahre ältere Schwester) und Onkel Giorgio, ver­steckten das Mädchen in ihrem Klein­wagen, schmug­gelten es zu sich nach Mantua und betreuten es, bis es 1967 mit den Eltern nach Deutsch­land zog. Nach dem Abitur studierte Adriana Schau­spielerei in Berlin und New York und bewährte sich danach als Schau­spielerin, Regis­seurin, Autorin und Theater­grün­derin in Berlin, Stuttgart, Konstanz und Basel sowie in Film­rollen. Zahl­reiche Auszeich­nungen sprechen für die Qualität ihrer Leis­tungen.

In den wenigen, aber prägenden Jahren in Mantua wurde Tante Jelka ihrer Nichte zur fürsorg­lichen, liebenden (Ersatz-) Mutter und stand ihr auch später in allen seeli­schen Nöten bei. Adriana besuchte sie häufig, auch in Beglei­tung ihrer Ab­schluss­klasse und wech­selnder Partner. Wenn sie von allzu großen Sorgen gequält wurde, kochte Jelka ihr Pasta – nach dem Motto »Ein Leben lang mittags Pasta und man überlebt alles«.

Seit 2010 veröffentlicht Adriana Altaras erfolg­reiche Romane mit dem Hinter­grund ihres jüdischen Familien­kreises. Bereits in ihrem Best­seller »Titos Brille. Die Ge­schichte meiner strapa­ziösen Familie« spielte Tante Jelka eine Neben­rolle, und ihr jüngstes Werk ist nun voll­ständig der »eigen­sinnigen Tante« gewidmet. Die Autorin schildert darin in einer wunderbar leicht dahin­fließen­den Mischung aus Herzblut, einem melan­choli­schen Grundton und viel origi­nellem Witz, wie ihre unge­wöhn­liche Titel­heldin sie in beson­derer Weise geprägt hat, bis sie im hohen Alter von 101 Jahren in einem Altenheim bei Mantua starb.

Mit Adrianas Umzug nach Gießen und der Rückkehr zu ihren Eltern wurde sie freilich erst einmal einem anderen Erzie­hungs­stil konfron­tiert. Der Ballett­unter­richt, den Tante Jelka ihrem kleinen Gast gegönnt hatte, war für Mutter Thea nicht die richtige Vorbe­reitung auf die Härten des feind­lichen Lebens. Sie schickte ihre Tochter auf ein Mädchen-Internat, wo Kampf­sport die unter­richts­freien Nach­mittage füllte. Adriana war dort untröst­lich und hegte beständig Pläne einer Flucht gen Italien. Die Unter­schiede zwischen den beiden unglei­chen Schwes­tern – Thea war Femi­nistin, Kommu­nistin und glühende Vereh­rerin ihres Helden Tito, Jelka schwärmte für Berlus­coni – brachen hervor und belas­teten Adriana.

Die Erzählung beginnt in einer schlimmen Zeit im Frühjahr 2020. Die Angst vor dem Corona-Virus hat die Welt im Griff, und die Regie­rungen glauben, ihre Bürger vor Anste­ckungen schützen zu können, indem sie ihre Ängste noch befeuern (wobei »die Bilder von Bergamo« eine promi­nent unrühm­liche Rolle spielen) und ihren gewohn­ten eigen­verant­wortlich geführ­ten Alltag bis in nicht mehr nach­vollzieh­bare Details ein­schränken.

In Mantua, nahe bei Bergamo, wohnt Tante Jelka im Altenheim »Villa Paradiso«, doch für sie ist es das Gegenteil dessen, was der Name ver­spricht. Sie fühlt sich behandelt, als wäre sie debil, und aus der Kantine kommt laues Essen. In der Corona-Zeit ist die »Casa di cura« ein von der Außenwelt abge­schot­tetes »Toten­haus«, in dessen Erdge­schoss sich die wenigen Gesunden aufhalten, die »von der Malattia verschont geblieben« sind. Nach einem Ober­schenkel­hals­bruch ist die alte Dame vollends auf andere ange­wiesen, zwangs­inter­niert, darf Haus und Zimmer nicht verlassen und keinen Besuch empfangen. Und all das, nachdem sie ein ausge­spro­chen selbst­bestimm­tes Leben geführt und wahre Höllen wie die Spanische Grippe und ein kroati­sches KZ durchlebt hat.

Mehrfach hatte Adriana, die gerade als Opern­regis­seurin in Berlin arbeitet, der Tante vorge­schlagen, sie nach Berlin in ein schönes Heim zu holen, wo sie sie öfter besuchen könnte, doch Jelka hat alle Vorstöße katego­risch abgelehnt: »›Magari, schön wär’s, aber lass es uns ein andermal bespre­chen.‹ Das jüdische Alters­heim ist ihr zu russisch, im deutschen Heim fehlen ihr die Juden. Kochen tun alle schlech­ter als die Italiener, und so vergeht die Zeit.« Jetzt sind der Nichte jegliche Besuche verboten, nicht einmal den ein­hunderts­ten Geburts­tag darf man mit­einan­der feiern. Dabei ist auch Adriana psychisch schwer ange­schlagen, nachdem ihr Mann sie nach dreißig Ehejahren verlassen hat und sie ihren sech­zigs­ten Ge­burts­tag ganz un­spek­taku­lär begehen musste.

Als einzige Kontaktmöglichkeit sind Telefon oder das neu­modi­sche Skypen ver­blieben. Obwohl die Tante damit umzugehen weiß, versteht sie die Welt da draußen nicht mehr: »Arti­ficial Intelli­gence«, »Work-Life-Balance« und »Sharing« – »geht wohl nur auf Englisch«. Auch das diffi­ziler gewordene Verhält­nis zwischen den Ge­schlech­tern macht ihr zu schaffen, insbe­son­dere hinsicht­lich Adriana: Unter Milliar­den Männern, meint sie, müsse es doch auch für sie einen passenden geben. Wie immer hat »Zia« eine Fülle teils ver­rückter Ideen im Kopf und Lebens­weis­heiten auf den Lippen, wie auch die titel­geben­de (»Meglio soli, che mal accom­pagnati«). Der ent­schei­dungs­schwa­chen Nichte empfiehlt sie, eine Thera­peutin, später eine Karten­leserin aufzu­suchen, schließ­lich die teure App eines jüdi­schen Dating­portals zu instal­lieren. Doch »die Prin­zessin auf der Erbse ist eine ent­spannte Person neben den An­sprü­chen meiner Nichte.«

Der langsam einsetzende geistige Verfall ihrer geliebten »Zietta« (»Tantchen«) und die Verengung ihrer Persön­lichkeit besorgen Adriana. Die stets welt­offene Dame klagt nun über das Böse in den Menschen, behauptet, überall hockten noch immer Faschis­ten, und jeder im Altenheim wolle sie bestehlen. Doch ihre Vor­kehrun­gen – alles wegzu­schlie­ßen, Zettel mit entsetz­lichen Drohungen anzu­bringen – können ihr nicht helfen: Pullover und Amulette ver­schwin­den ebenso wie Schlüssel, und die Ver­ängsti­gung nimmt zu.

Adriana Altaras Roman ist ein Buch des ausge­prägten Indivi­dualis­mus. Es thema­tisiert, wie seine Erzäh­lerin und ihre um einige Jahre ältere Protago­nistin mit dem Älter­werden, mit der Ein­sam­keit, mit Schick­sals­schlägen umgehen. Beider Leben hätte anders verlaufen sollen, als sie es geplant hatten und lange Zeit durchaus gesichert glaubten. Bei der Tante hat der ent­setz­liche Krieg »alles geprägt. Alles, was danach kam, war das Gegenteil von dem, was ich mir vorge­stellt hatte«, aber auch die Nichte musste damit fertig­werden, dass ihr Mann sie nach dreißig Ehejahren verließ und sie mit den Ängsten vor dem Alter und dem Allein­sein zurück­blieb. Die Tante (deren Ehe auch keine glück­liche war) ist ihre engste Bezugs­person, der sie ihre Sorgen und Nöte anver­trauen kann, und diese versucht mit Empathie zu helfen, zu trösten, Mut zum Leben zurück­zubrin­gen, sie mit einem Lachen aus dem Teufels­kreis ihrer selbst­quäleri­schen Fragen zu befreien, während sie alters­bedingt selbst an die Grenzen ihrer Selbst­bestim­mung stößt. Fast bis zu ihrem Tod dient sie der Nichte als Vorbild: Sie weiß sich zu helfen, schwimmt täglich, behält ihren starken Willen, ihre Launen, ihren Opti­mismus und ihre Lebens­lust.

Die Autorin ist eine überzeu­gende Erzäh­lerin. Mit sicherem Gespür findet sie die richtigen Worte – warm­herzige, zärtliche, humor­volle (jüdische Witze inklusive) – und rückt abwech­selnd die Per­spek­tiven der beiden Ver­wand­ten in den Vorder­grund. Während sie räumlich teils nah, teils fern von einander leben, sind ihre Seelen stets eng verbunden. Bio­grafi­sches und Fiktio­nales fließen stö­rungs­frei inein­ander, und der Erzähl­fluss darf seinen Lauf ohne jegliche Rücksicht auf die chronolo­gische Abfolge der Ereig­nisse nehmen. So stehen prägende Erleb­nisse aus unter­schied­lichs­ten histori­schen Epochen neben­ein­ander. Obwohl Tante Jelka ein ganzes Jahr­hundert mit Krieg, Verfol­gung und KZ-Inter­nierung durch- und über­lebt hat, konnte sie sich eine groß­bürge­rliche »stoische Haltung und Grandezza« bewahren. Als feine Dame steht sie über modischen Tendenzen, »trägt Cashmere und Schotten­röcke« und will nicht einmal im »Toten­haus« auf ihre teure »Shiseido-Creme« ver­zichten.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Sommer 2023 aufgenommen.


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