Der Arbeitgeber als Partner und Freund
Der Film "Ziemlich beste Freunde" (Originaltitel "Intouchables") war der große Kinoerfolg des Jahres 2011. Er basiert auf der Autobiografie von Philippe Pozzo di Borgo, dem ehemaligen Geschäftsführer des Champagnerherstellers Pommery, die er 2001 unter dem Titel "Le second souffle" in Frankreich veröffentlicht hatte. (In der deutschen Übersetzung von Dorit Gesa Engelhardt, Marlies Ruß und Bettina Bach erschien dieses Buch im März 2012 bei Hanser auf Deutsch: "Ziemlich beste Freunde".) Lange hatte er die Anfragen zu Filmrechten verweigert, doch dann endlich eingewilligt - unter der Bedingung, dass ein Teil der Einnahmen an eine Behindertenvereinigung gespendet und seine Geschichte im Film nicht etwa mitleiderregend, sondern als Komödie präsentiert wird.
Pozzo di Borgo ist seit einem Gleitschirmunfall 1994 querschnittsgelähmt. Da er nur noch seinen Hals bewegen kann, suchte er einen Pfleger, der sich permanent um ihn kümmern sollte; dafür bot er ein gutes Salär sowie eine Dienstwohnung. Aus der Vielzahl der Bewerber engagierte di Borgo ausgerechnet den Kriminellen Abdel Yasmin Sellou. Obwohl der eigentlich nur eine Unterschrift fürs Arbeitsamt wegen seines Arbeitslosengeldes wollte, ließ er sich auf ein paar Probetage ein. Schließlich blieb er - ganze zehn Jahre, bis er selber durch einen Schwerstunfall mit einem Sattelschlepper auf einen Rollstuhl angewiesen ist.
Nachdem Philippe Pozzo di Borgo das Zusammenleben des ungleichen Paars aus seiner Sicht veröffentlicht hatte, erschien jetzt mit "Einfach Freunde" Abdel Sellous Darstellung - "die wahre Geschichte des Pflegers" (so der Untertitel).
Abdel Sellou ist heute 40 Jahre alt, verheiratet, Vater und Unternehmer. "Tu as changé ma vie" ("Du hast mein Leben verändert"), bekennt er gleich im Titel seines Berichts (den Patricia Klobusiczky und Lis Künzli übersetzt haben).
Als Eigentümer eines Masthähnchenbetriebs in Algerien kann er nun locker über seine Zeit vor dem Job, der sein Leben veränderte, plaudern. Seinem Arbeitgeber di Borgo, der ihm die Chance seines Lebens gab, ihn formte, ihm Kultur und unaufdringliche Manieren beibrachte und ihm so ein anständiges Leben in der Gesellschaft ermöglichte, hatte er hingegen verschwiegen, dass er seit Kindesbeinen geklaut hatte und als Achtzehnjähriger im Knast gelandet war.
Weil seine Tante in Paris keine Kinder bekommen konnte, gaben die Eltern den dreijährigen Abdel wie selbstverständlich an sie ab. Afrikanische Eltern lassen ihren Kindern alle Freiheiten der Welt; so kannte auch Abdel keine Strafe, als er ständig klaute, die Schule nicht besuchte, von der Polizei nach Hause gebracht wurde. Erst als er volljährig wurde, musste er sich vor Gericht für sein Handeln rechtfertigen und Verantwortung übernehmen.
Ohne jegliche medizinische Kenntnisse, überhaupt ohne jegliche Bildung, aber auch ohne jegliche Hemmungen übernimmt er den Mädchen-für-alles-Job bei dem stinkreichen di Borgo. Dass Glück nicht mit Geld zu kaufen ist, dass Reichtum nicht vor schrecklichsten Schicksalsschlägen schützt, sind Erkenntnisse, die Abdel Sellou erst jetzt erreichen, als er eine überraschend harte, ja zynische Realität kennenlernt. Di Borgos Ehefrau stirbt an Krebs, er will nicht mehr weiterleben, Depressionen ziehen ihn immer weiter herunter.
Abdel zieht resolut einen Schlussstrich. Er vermag es, den Verzweifelten wieder ans Licht zu holen, indem er mit ihm auf Reisen geht, ihm sogar Freundinnen ins Haus holt. Aus dem Arbeitsverhältnis entwickelt sich eine Partnerschaft des Gebens und Nehmens.
Heute verbindet die beiden eine tiefe Freundschaft. Pozzo di Borgo hat wieder geheiratet und lebt mit seiner Familie in Marokko. Zu Abdel Sellous Buch hat er ein Nachwort verfasst.
Abdel Sellou schreibt in lockerem, flapsigem Ton, gibt sich bisweilen cool, und natürlich ist da auch ein Hauch Stolz zu spüren. Eine unterhaltsame Ergänzung zum Film.