Weiße Lilien - ein Hohn für die Eltern der Entführten
Kaum sind Anne und Lars zu ihrem Italienurlaub aufgebrochen, da kommt es schon zu einem heftigen Streit. Anne springt aus dem Wagen und läuft ziemlich kopflos in die Dunkelheit. Hinter sich nimmt sie knackende Geräusche wahr; fremde, stampfende Schritte verfolgen sie. Die Rettung scheint nah, als sie eine entlegene Bungalow-Siedlung erreicht und an die erstbeste Tür hämmert ... Doch nichts rührt sich - eine Geistersiedlung? Endlich öffnet sich eine Tür. Sie bittet, telefonieren zu dürfen. Aber der Anblick des Inneren lässt sie Entsetzliches ahnen. Auf einem Tisch liegen rostige Sägen, schmutzige Küchenhandtücher, Klebeband, eine Kordel - und auf dem Boden sieht sie einen großen Blutfleck. Sie hört noch wimmernde Stimmen, bevor sie von hinten gewürgt wird und niedersinkt.
In einem dunklen Verlies kommt sie wieder zu sich. Neben ihr liegt ein kleiner Junge, vier Jahre alt, übersät mit zahlreichen Schnittwunden. Sie ahnt, dass in absehbarer Zeit niemand nach ihr suchen wird; da wird das ächzende Geräusch auf der Leiter wohl auch kaum vom Herannahen der Polizei künden ...
Kriminalhauptkommissar Piet Karstens und seine Kollegin Frauke Behrendt klingeln an der Berliner Altbauwohnung von Fiona Seeberg und Adrian Riedel. Zwei Jahre zuvor war ihre zweijährige Tochter Sophie spurlos von einem Spielplatz verschwunden. Zwei weitere Kinder wurden in der Zwischenzeit auf ähnliche Weise gekidnapt, und am Tag zuvor hat der Serientäter den vierjährigen David aus einem Schwimmbad entführt - also der vierte Vermisste. Allen betroffenen Eltern wurde nach der Tat eine weiße Lilie zugestellt ...
Hanna Winter beginnt ihren Roman mit zwei spannenden Handlungssträngen; der Leser ahnt schon Zusammenhänge. Kaltblütig und grausam geht der Täter vor. Das Leid, der Schmerz, das psychische Trauma des kleinen Jungen sollte auch abgebrühte Krimileser berühren. Wo aber sind die anderen Kinder? Leben sie noch? Was bedeutet das Ritual der weißen Lilie?
Die erneute polizeiliche Befragung Fionas ist sehr interessant. Fiona, ehemals Dozentin, glaubt immer noch, dass ihre Tochter lebt. Doch der Verlust zerfrisst sie psychisch. Ihren Beruf kann sie nicht mehr ausüben, und der Alkohol ist zu ihrem Tröster geworden. Ansonsten sitzt sie täglich an dem Spielplatz, wo ihre Tochter damals zuletzt spielte.
Kleine beiläufig erscheinende Texteinschübe schaffen neue Spannungselemente, die vielleicht im weiteren Handlungsverlauf an Gewicht gewinnen könnten: An den Tatorten wurde ein Lieferwagen beobachtet (Gehört er dem Entführer?). Seit Wochen sitzt ein alter Mann auf der Parkbank und schenkt den Kindern Bonbons (Ist er irgendwie beteiligt?). Fiona wird das Gefühl nicht los, dass irgend etwas nicht stimmt (Denkt sie dabei an Adrian, ihren Mann?). Sie erinnert sich an ein Ereignis an der Uni - das aber niemanden etwas angehe ...
Tat, Täter und Tatmotiv sind vielleicht komplexer, als bisher zu ahnen ist. Die Spannungslatte ist sehr hoch aufgelegt. Überspringt die Autorin noch weitere Höhen? Ich traue es ihr zu ...