
Mord nach 48 Ehejahren
Die Leseprobe stammt aus einem Buch mit einem ungewöhnlichen Konzept: Der Autor Ferdinand von Schirach, Anwalt und Strafverteidiger, trägt darin verschiedene Fälle, mit denen er im Laufe seines Berufslebens konfrontiert war, in erzählerischer Form zusammen. Die Episoden beruhen also alle auf Tatsachen, was sie umso ergreifender macht. Die Leseprobe umfasst eine dieser Episoden.
Auf der Geburtstagsfeier seines Vaters lernt der 24-jährige Friedhelm Fähner die drei Jahre ältere Verkäuferin Ingrid kennen. Die Familie Fähner lebt seit Generationen im mittelalterlichen Städtchen Rottweil, wo sie als Ärzte, Apotheker und Richter immer schon hohes Ansehen genossen. In dieser Tradition studiert auch Friedhelm Medizin und wird in Rottweil praktischer Arzt.
Ingrid heiratet er schon kurz nach ihrem Kennenlernen. Die Hochzeitsreise geht nach Kairo. Als Ingrid von ihren vorehelichen Beziehungen, einer Schwangerschaft und Abtreibung erzählt, trübt auch dieses Geständnis nicht das junge Glück, denn Friedhelm ist großherzig, zuverlässig, ehrlich, selbstlos und treu. So bedeutet ihm das Versprechen, das Ingrid ihm abverlangt ( "Du darfst mich nie verlassen."), eine lebenslange Verpflichtung, die einzuhalten er seiner Gemahlin schwört.
Das Eheleben entwickelt sich allerdings schnell zu einem Martyrium. Anfangs sind es kleine, aus der Luft gegriffene Vorwürfe Ingrids gegen ihn, etwa dass er unordentlich und schmutzig sei; später verliert sie in ihren Beleidigungen alle Hemmungen, jegliches Maß und Niveau.
Friedhelm leidet unter den ständigen Anfeindungen und dem Gefühl, auf Grund seines Eides lebenslang Gefangener dieser Beziehung zu sein, bewahrt aber geduldig die Contenance.
Erst mit 72 Jahren - er ist im Ruhestand - ist das Maß voll: Als seine Frau ihn wieder einmal anbrüllt, erschlägt er sie im Keller auf brutalste Weise.
Diese Leseprobe ist vom ersten bis zum letzten Wort flüssig, spannend und logisch verfasst. Dass Friedhelm nicht die Scheidung, sondern Mord als Befreiung wählt, ist überzeugend hergeleitet.
Die agierenden Personen werden im Verlauf der Handlung in ihrem Tun und ihrem Äußeren immer klarer und sehr gut vorstellbar. Besonders eklig und abstoßend wird das Erscheinungsbild Ingrids ausgearbeitet: "Sie war fett geworden. Ihr wulstiger Hals war nicht mehr fest, vor ihrer Kehle hatte sich ein Hautlappen gebildet, der im Takt ihrer Beschimpfungen hin und her waberte." Der Leser leidet mit Friedhelm und solidarisiert sich mit ihm.
Die Leseprobe hat mich absolut überzeugt. Das ist ein Krimi der EXTRAKLASSE. Ich wünsche dem Autor Ferdinand von Schirach viel Erfolg mit diesem Buch.