Noli me tangere
Bevor das erste Kapitel beginnt, ist das Auge des Lesers auf das Gemälde "Noli me tangere" des italienischen Renaissance-Malers Tizian gelenkt. Die Autorin gibt dem Leser mit ihrer detaillierten Bildbeschreibung und ihrer Interpretation einen faszinierenden Zugang zu diesem einzigartigen Bild.
Nach einer Fehlgeburt liegt Claire im Krankenhaus, betrachtet eben dieses Bild und erinnert sich, dass sie die Worte, mit denen Jesus Maria Magdalena abgewiesen hatte, auch gegen ihren Mann verwendet hat: "Fass mich nicht an." Claire wird bewusst, dass diese Zurückweisung wie Gift auf ihn gewirkt haben muss, aber gefangen in ihrem herzzerreißenden Schmerz konnte sie nichts anderes zu ihm sagen.
Nach zwei Jahren glücklicher Ehe erfüllte sich ihr gemeinsamer Kinderwunsch, doch mit dem Verlust des Kindes scheint nun alles zerstört. Sie haben sich nichts mehr zu sagen, und schließlich ist Rob Schuld. Er hatte sie im Stich gelassen, als sie ihn gebraucht hatte ...
"Liebe Elizabeth", so beginnt im November 1942 Daisys erster Brief an ihre Freundin, die drei Jahre zuvor mit ihrem Mann das kriegsgebeutelte England verlassen hat. Daisy dagegen ist fest entschlossen, in London zu bleiben. In ihrem Brief berichtet sie über die aktuelle Lage in der Stadt und wie die Menschen, obschon sie täglich ihr Hab und Gut verlieren, dennoch voller Glück sind, dass sie einander noch haben. Da sie sich nach Ablenkung, nach etwas Schönem sehnen, beschließt die Leitung der National Gallery, jeden Monat ein Meisterwerk der eingelagerten Kunst abzustauben und auszustellen. Daisy will von nun an regelmäßig das Museum besuchen und Elizabeth berichten. Der Saal ist voller Schaulustiger; Daisy kennt den alten Schinken nicht, ein Tizian, muss ja wohl etwas Besonderes sein: "Noli me tangere".
Meinen ersten Eindruck, mich in einer rührseligen Zweierbeziehung, die eine ernste Krise nicht übersteht, zu befinden, habe ich schnellstens revidiert. Tizian, leider nur in einem Schwarz-Weiß-Druck, und die ausführliche, aufschlussreiche Interpretation des Gemäldes haben mich sofort in ihren Bann gezogen. Ebenso beeindruckend ist Daisys Bericht aus dem London der vierziger Jahre. Trotz der Tristesse ist sie optimistisch; das Vorhaben, jeden Monat ein neues Bild anzuschauen, ist ihr unmittelbares Ziel, um selber zu überleben. All das Elend der Londoner spart sie nicht aus.
Hier ist ein reichhaltiger, spannender Stoff angelegt: Historie, Kultur und eine junge Frau, die Daisys Lebensbericht liest. Deren Kampf ums Überleben wird ihr zu denken geben, ihre Probleme relativieren.
Doch am meisten freue ich mich auf den nächsten Besuch in der National Gallery. Welches Meisterwerk erwartet mich als nächstes?