
Sommer bei Nacht
von Jan Costin Wagner
Ein Mann entführt einen kleinen Jungen von einem Schulhof. Wie das Team von problembeladenen Polizisten ermittelt und den Fall löst, erzählt Jan Costin Wagner auf ungewohnte, originelle Weise.
Das Böse im Guten
Es braucht keine Seite, da wissen wir schon, wer der Täter ist und was er angestellt hat. Marko (so die Kapitelüberschrift) hat in einem Wiesbadener Spielzeugladen zwei große, flauschige Stoff-Teddybären gekauft, erregt damit das Interesse eines Jungen auf dem Schulhof einer Grundschule und entführt ihn in seinem Auto.
Erzählt wird das in äußerst knappen Einfachsätzen, die jedoch die Innenwahrnehmung des Mannes auf erstaunlich beklemmende Weise offenlegen (»Etwas rastet ein. Seine Hand in der Hand des Jungen und noch etwas. Etwas anderes. Sie laufen. Er spricht. […] Alles ist anders, alles neu.«).
Während wir den Sätzen nachhängen, ihre Tragweite spüren, beginnt ein neues Kapitelchen mit der Überschrift »Ben« und wirft uns mitten in die rätselhaft verloren anmutende Situation einer anderen Figur (»Steht allein auf dem Feld. […] Er spürt, dass er sterben wird.«). Der Sprachstil ist fast gleich – nur sind viele Sätze nur noch Fetzen, was das Bild noch geheimnisvoller macht. Damit ist Ben Neven eingeführt, ein Ermittler der Wiesbadener Kriminalpolizei, den sein Kollege und Einsatzleiter Christian Sander soeben wegen einer Entführung zu einer Grundschule ruft. Nach eineinhalb Seiten beginnt schon das Kapitel »Christian«.
Nach diesem Strukturprinzip geht es die nächsten dreihundert Seiten weiter. Im Druckbild deutlich abgetrennt, enthüllt jedes Kapitel die Sichtweise einer handlungstragenden Person und gibt uns Einblicke in ihre Beobachtungen, Überlegungen, Befindlichkeiten und Gespräche. Äußere und innere Handlung halten sich die Waage. Oft ist nicht auf Anhieb nachzuvollziehen, was da an Gedanken- und Satzbrocken, Impressionen und Assoziationen durch ein Gehirn irrlichtert. Das kann poetische Qualitäten annehmen: »… durch den flirrenden Sommer. Die Wärme prallt ab. Er versucht sie aufzufangen, wie einen Ball, wirft sie zurück an die Wände der grauen Häuser.« … Wenig später: »Die grauen Wände der Häuser sind jetzt auf der anderen Seite, spiegelverkehrt … die Wärme prallt nicht mehr ab, sie schmiegt sich an ihn, hüllt ihn ein. Der Junge läuft an seiner Hand.«
Über das im Mittelpunkt stehende Verbrechen und die Suche nach dem Täter wirken die Einzelperspektiven auf unterschiedliche Weise aufeinander ein, stellen sich in Frage, ergänzen oder widerlegen einander.
Mit seiner Reihe um den finnischen Kommissar Kimmo Joentaa [› Rezension] erlangte der Autor Jan Costin Wagner viel Anerkennung (u.a. den deutschen Krimipreis) und eine treue Lesergemeinde. Mit seinem soeben erschienenen Kriminalroman »Sommer bei Nacht« wagt er sich mutig an eine neue gestalterische Form, die interessant, aber zweifellos gewöhnungsbedürftig ist.
Durch die multiperspektivische Erzählweise verbunden mit der eigenwilligen Sprachgestalt ist die Charakterzeichnung gebrochen und kompliziert. Das passt gut zu den Protagonisten, denn alle Ermittler sind vielschichtige Persönlichkeiten, mit deren dunklen Façetten der Autor zu spielen scheint. Zwar agieren sie auf der Seite der ›Guten‹, gleichzeitig ist sich jeder der in ihm schlummernden Abgründe bewusst. Dazu gehören sogar Neigungen, die sie mit dem pädophilen Täter teilen.
So punktet Wagners Neustart für eine neue Reihe durch die Erzähltechnik, während die Handlung recht konventionell daherkommt. Die Spannung hält sich in Grenzen, atemberaubende Knüller und Wendungen bleiben aus. Die Spurensicherer untersuchen einen Teddy, den der Entführer auf dem Schulhof zurückgelassen hat. Die Verhöre beginnen im inneren Zirkel der Familie des entführten Fünfjährigen und zeichnen Bilder des Jungen, seiner Mutter und des Vaters, eines Synchronsprechers mit markanter Stimme für Fernsehserien und Werbespots.
Eine der sensibel treibenden Personen des Ensembles ist die große Schwester Sarah, die ein gutes Gespür für Ungereimtheiten hat: »Mit dem Mann stimmt was nicht, und mit ihr stimmt auch was nicht.«, »Der Raum ist zu kühl, die Polizisten sind zu ernst.«
Trotz steigenden Aufwands – Hubschrauber und weiteres Personal – bleiben die Ermittlungen lange aussichtslos. Doch die Statistik gibt Zuversicht: Fast alle vermissten Kinder bis vierzehn Jahre werden unbeschadet wieder aufgefunden. Unter den wenigen unaufgeklärten Fällen stößt man auf einen, der dem aktuellen Fall sehr ähnlich scheint.
Mehr Inhaltliches zu verraten würde dem recht einspurigen Krimigeschehen zu viel Substanz wegnehmen. Da der Leser den Täter von der ersten Seite an kennt und den polizeilichen Ermittlern stets voraus ist, durchschaut er den Plot leicht und kann sich auf die außergewöhnliche Gestaltung der Sprache und der Charaktere konzentrieren. Das differenziert angelegte Team der Ermittler – alles diffuse Persönlichkeiten, die der Fantasie Freiraum für eigene Mutmaßungen und Urteile lassen – bietet genug Potenzial und Zündstoff für die Fortführung einer Reihe – wenn das neue Konzept denn genug Zuspruch findet.